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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Man kann nun keineswegs behaupten, daß das neue Drama bei der
Schilderung dieser Zustände durchweg unsittliche Tendenzen verfolgt, es erhebt
nur den Anspruch, die Menschen und Dinge gerade so zu schildern, wie sie/
sind, oft mit der Absicht, die Zeit durch Vorhalten ihres Spiegelbildes zu
bessern. Aber mit Recht ruft Rutenberg den Realistikern zu: "Bedenket, daß,
wenn ihr die scharfen Messer eurer Kritik an den lebendigen' Körper eurer
eignen Zeit ansetzt, die Gefahr unvermeidlich ist, zu tief in das Fleisch der
Seele zu schneiden und, statt sie von ihren krankhaften Auswüchsen zu be¬
freien, den geistigen Nerv, der zuweilen in der Form der Krankheit zur Er¬
scheinung kommt, für immer zu ertödten." Vor Allem aber ist zu bedenken,
daß die Wirkung, welche die modernen Dramatiker erreichen, keineswegs die
ist, in dem Zuschauer den Abscheu hervorzurufen, sondern gerade ihn in der
Atmosphäre dieser Zustände heimisch zu machen, sodaß er sie als eine That¬
sache hinnimmt, mit der ein kluger und solider Mann sich so gut als mög¬
lich abzufinden sucht. Vermag der Dichter nicht in den Verhältnissen, die er
schildert, ein ideales Element aufzufinden, hat er die Kraft verloren, ein
solches in sie hineinzulegen, wie soll er sein Publieum aus dem Sumpf er¬
heben? Ist das Drama Nichts als ein genaues Spiegelbild, ein photogra¬
phischer Abdruck des wirklichen Lebens, so verzichtet es von vornherein darauf,
erhebend auf das Leben einzuwirken. Es hört auf, die Leidenschaften zu
läutern , ja es verliert mehr und mehr die Kraft, sie nur darzustellen, den
Kampf der Interessen zum tragischen Conflict zu steigern. Mit Recht beklagt
Rutenberg, daß man im französischen Drama der Neuzeit den wahren, na¬
türlichen Ausdruck der Leidenschaft nur ganz vereinzelt findet. Es fehlt den
Personen die Kraft einer tiefen Empfindung, es fehlen ihnen darum auch
die wahren "Naturlaute der Leidenschaft", die unwiderstehlich die conventio-
nelle Form durchbrechen. Daher denn auch die von unserm Verfasser beson¬
ders hervorgehobene Unfruchtbarkeit in der Erfindung, die Einförmigkeit im
Zerhauen des Knotens. Ein intendirtes oder ausgeführtes Duell, verabredet
nach allen Regeln der Kunst, vertritt (wie der Verfasser vortrefflich an einem
Beispiele ausführt) die Stelle des veus ex maelüug.; selbst wenn der belei¬
digte Ehemann mit Mordgedanken umgeht, vergißt er nicht, was ihm co<I"
gestattet, was verbietet. An kunstvoller Verwickelung, gewandter Ent¬
wirrung, Feinheit der Intrigue können sich die neuen Stücke den Scribe'schen
nicht an die Seite stellen. Darin würde man nun in der That in gewissem
Sinne eine Art von Fortschritt erkennen können, wenn nur an die Stelle des
verschlungenen Mechanismus, in dem der Zufall die entscheidende Rolle
spielt, eine tiefe psychologische Motivirung getreten wäre. Allerdings ist bei
einigen der bedeutenden Dramatiker dies Streben nach Psychologischer Moll"
virung denn auch vorhanden. Aber so trefflich es die Verfasser verstehen, der


Man kann nun keineswegs behaupten, daß das neue Drama bei der
Schilderung dieser Zustände durchweg unsittliche Tendenzen verfolgt, es erhebt
nur den Anspruch, die Menschen und Dinge gerade so zu schildern, wie sie/
sind, oft mit der Absicht, die Zeit durch Vorhalten ihres Spiegelbildes zu
bessern. Aber mit Recht ruft Rutenberg den Realistikern zu: „Bedenket, daß,
wenn ihr die scharfen Messer eurer Kritik an den lebendigen' Körper eurer
eignen Zeit ansetzt, die Gefahr unvermeidlich ist, zu tief in das Fleisch der
Seele zu schneiden und, statt sie von ihren krankhaften Auswüchsen zu be¬
freien, den geistigen Nerv, der zuweilen in der Form der Krankheit zur Er¬
scheinung kommt, für immer zu ertödten." Vor Allem aber ist zu bedenken,
daß die Wirkung, welche die modernen Dramatiker erreichen, keineswegs die
ist, in dem Zuschauer den Abscheu hervorzurufen, sondern gerade ihn in der
Atmosphäre dieser Zustände heimisch zu machen, sodaß er sie als eine That¬
sache hinnimmt, mit der ein kluger und solider Mann sich so gut als mög¬
lich abzufinden sucht. Vermag der Dichter nicht in den Verhältnissen, die er
schildert, ein ideales Element aufzufinden, hat er die Kraft verloren, ein
solches in sie hineinzulegen, wie soll er sein Publieum aus dem Sumpf er¬
heben? Ist das Drama Nichts als ein genaues Spiegelbild, ein photogra¬
phischer Abdruck des wirklichen Lebens, so verzichtet es von vornherein darauf,
erhebend auf das Leben einzuwirken. Es hört auf, die Leidenschaften zu
läutern , ja es verliert mehr und mehr die Kraft, sie nur darzustellen, den
Kampf der Interessen zum tragischen Conflict zu steigern. Mit Recht beklagt
Rutenberg, daß man im französischen Drama der Neuzeit den wahren, na¬
türlichen Ausdruck der Leidenschaft nur ganz vereinzelt findet. Es fehlt den
Personen die Kraft einer tiefen Empfindung, es fehlen ihnen darum auch
die wahren „Naturlaute der Leidenschaft", die unwiderstehlich die conventio-
nelle Form durchbrechen. Daher denn auch die von unserm Verfasser beson¬
ders hervorgehobene Unfruchtbarkeit in der Erfindung, die Einförmigkeit im
Zerhauen des Knotens. Ein intendirtes oder ausgeführtes Duell, verabredet
nach allen Regeln der Kunst, vertritt (wie der Verfasser vortrefflich an einem
Beispiele ausführt) die Stelle des veus ex maelüug.; selbst wenn der belei¬
digte Ehemann mit Mordgedanken umgeht, vergißt er nicht, was ihm co<I»
gestattet, was verbietet. An kunstvoller Verwickelung, gewandter Ent¬
wirrung, Feinheit der Intrigue können sich die neuen Stücke den Scribe'schen
nicht an die Seite stellen. Darin würde man nun in der That in gewissem
Sinne eine Art von Fortschritt erkennen können, wenn nur an die Stelle des
verschlungenen Mechanismus, in dem der Zufall die entscheidende Rolle
spielt, eine tiefe psychologische Motivirung getreten wäre. Allerdings ist bei
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virung denn auch vorhanden. Aber so trefflich es die Verfasser verstehen, der


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[0335] Man kann nun keineswegs behaupten, daß das neue Drama bei der Schilderung dieser Zustände durchweg unsittliche Tendenzen verfolgt, es erhebt nur den Anspruch, die Menschen und Dinge gerade so zu schildern, wie sie/ sind, oft mit der Absicht, die Zeit durch Vorhalten ihres Spiegelbildes zu bessern. Aber mit Recht ruft Rutenberg den Realistikern zu: „Bedenket, daß, wenn ihr die scharfen Messer eurer Kritik an den lebendigen' Körper eurer eignen Zeit ansetzt, die Gefahr unvermeidlich ist, zu tief in das Fleisch der Seele zu schneiden und, statt sie von ihren krankhaften Auswüchsen zu be¬ freien, den geistigen Nerv, der zuweilen in der Form der Krankheit zur Er¬ scheinung kommt, für immer zu ertödten." Vor Allem aber ist zu bedenken, daß die Wirkung, welche die modernen Dramatiker erreichen, keineswegs die ist, in dem Zuschauer den Abscheu hervorzurufen, sondern gerade ihn in der Atmosphäre dieser Zustände heimisch zu machen, sodaß er sie als eine That¬ sache hinnimmt, mit der ein kluger und solider Mann sich so gut als mög¬ lich abzufinden sucht. Vermag der Dichter nicht in den Verhältnissen, die er schildert, ein ideales Element aufzufinden, hat er die Kraft verloren, ein solches in sie hineinzulegen, wie soll er sein Publieum aus dem Sumpf er¬ heben? Ist das Drama Nichts als ein genaues Spiegelbild, ein photogra¬ phischer Abdruck des wirklichen Lebens, so verzichtet es von vornherein darauf, erhebend auf das Leben einzuwirken. Es hört auf, die Leidenschaften zu läutern , ja es verliert mehr und mehr die Kraft, sie nur darzustellen, den Kampf der Interessen zum tragischen Conflict zu steigern. Mit Recht beklagt Rutenberg, daß man im französischen Drama der Neuzeit den wahren, na¬ türlichen Ausdruck der Leidenschaft nur ganz vereinzelt findet. Es fehlt den Personen die Kraft einer tiefen Empfindung, es fehlen ihnen darum auch die wahren „Naturlaute der Leidenschaft", die unwiderstehlich die conventio- nelle Form durchbrechen. Daher denn auch die von unserm Verfasser beson¬ ders hervorgehobene Unfruchtbarkeit in der Erfindung, die Einförmigkeit im Zerhauen des Knotens. Ein intendirtes oder ausgeführtes Duell, verabredet nach allen Regeln der Kunst, vertritt (wie der Verfasser vortrefflich an einem Beispiele ausführt) die Stelle des veus ex maelüug.; selbst wenn der belei¬ digte Ehemann mit Mordgedanken umgeht, vergißt er nicht, was ihm co<I» gestattet, was verbietet. An kunstvoller Verwickelung, gewandter Ent¬ wirrung, Feinheit der Intrigue können sich die neuen Stücke den Scribe'schen nicht an die Seite stellen. Darin würde man nun in der That in gewissem Sinne eine Art von Fortschritt erkennen können, wenn nur an die Stelle des verschlungenen Mechanismus, in dem der Zufall die entscheidende Rolle spielt, eine tiefe psychologische Motivirung getreten wäre. Allerdings ist bei einigen der bedeutenden Dramatiker dies Streben nach Psychologischer Moll« virung denn auch vorhanden. Aber so trefflich es die Verfasser verstehen, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/335>, abgerufen am 22.07.2024.