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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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schaftlichen Lebens. Bei allem byzantinischen Prunk fehlte es doch dem Hofe
sowohl an gewähltem Geschmack, wie an Geist. Denn fast Alles, was aus
Geist und feinere Bildung Anspruch machen konnte, gehörte der alten
politischen Schule an, und hielt sich von der soldatisch-büreaukratischen und
dabei mit abenteuernden Elementen zweifelhaften Rufes durchsetzten Hof¬
gesellschaft fern. Diese älteren Elemente, in denen die Ueberlieferungen
des glänzenden wissenschaftlichen und literarischen Aufschwunges der zwan¬
ziger und dreißiger Jahre noch fortlebten, waren nur dünn gesäet; sie
hatten außerdem durch ihr selbstverschuldetes politisches Mißgeschick an ihrer
Lebenskraft eingebüßt, sie waren zu sehr zu Ruinen geworden, um der gebil¬
deten Gesellschaft als Krystallisationspunkt zu dienen. Die Gesellschaft fiel
auseinander, sie wurde eine Beute der Anarchie, und die Anarchie ist das
Uebel, dem kein Volk sich so bereitwillig hingiebt und das doch kein Volk so
wenig vertragen kann, als das französische, das in allen Gebieten des geistigen,
sittlichen, wirthschaftlichen, politischen Lebens heute unbedingt der Regel hul¬
digt, morgen sich gegen sie empört, um nach einer Periode wüster Orgien der
Anarchie von Neuem sein Heil in der Unterwerfung unter den schroffsten
und willkürlichsten Zwang zu suchen.

Fand die gebildete tonangebende Gesellschaft nicht mehr in sich selbst
ihren Schwerpunkt, in ihren Salons ihren Vereinigungspunkt, so mußte sie
sich einen außer ihr liegenden Schwerpunkt suchen, da sie die individuelle Jso-
lirung auf die Dauer nicht ertragen konnte. Der Hof des Kaisers vermochte
wie gesagt nicht, Anziehungskraft auszuüben, und so bildeten sich denn jene
nahen und offen zur Schau getragenen Beziehungen der vornehmen und
reichen Welt zu der weiblichen Halbwelt aus. die für die Zeit des Kaiser-
thums charakteristisch sind- Nicht als ob diese Erscheinung bis dahin unbe¬
kannt gewesen wäre. Aber von den herkömmlichen Studentenliebschaften bis
zu der Maitressenherrschaft der fünfziger und sechziger Jahre ist doch ein
weiter Abstand. Das Treiben der Grisetten, so verderblich auch sein Einfluß
auf die gebildete Jugend von jeher war, ist anspruchslos und harmlos im
Vergleich mit der aufdringlichen Prunksucht und der übermüthigen Verschwen¬
dung, der Anziehungskraft auf die vornehmsten Kreise, welche die zweideutige
Frauenwelt der neuesten Zeit charakterisirt.

Schon die bekannten Romane Eugen Sue's aus der zweiten Periode seiner
einflußreichen schriftstellerischen Wirksamkeit hatten die Beziehungen der vor¬
nehmen Welt zu den Tiefen der Gesellschaft zum Gegenstande. In der
Schilderung dieser Beziehungen lag die eigenthümliche Anziehungskraft, die
diese Romane ihrer Zeit ausübten, nicht in den socialistischen Grundsätzen,
die der Verfasser zu Markte brachte, um seinen zugleich abstoßenden und ver¬
lockenden Schilderungen des Pariser Treibens einen wissenschaftlichen und po-


schaftlichen Lebens. Bei allem byzantinischen Prunk fehlte es doch dem Hofe
sowohl an gewähltem Geschmack, wie an Geist. Denn fast Alles, was aus
Geist und feinere Bildung Anspruch machen konnte, gehörte der alten
politischen Schule an, und hielt sich von der soldatisch-büreaukratischen und
dabei mit abenteuernden Elementen zweifelhaften Rufes durchsetzten Hof¬
gesellschaft fern. Diese älteren Elemente, in denen die Ueberlieferungen
des glänzenden wissenschaftlichen und literarischen Aufschwunges der zwan¬
ziger und dreißiger Jahre noch fortlebten, waren nur dünn gesäet; sie
hatten außerdem durch ihr selbstverschuldetes politisches Mißgeschick an ihrer
Lebenskraft eingebüßt, sie waren zu sehr zu Ruinen geworden, um der gebil¬
deten Gesellschaft als Krystallisationspunkt zu dienen. Die Gesellschaft fiel
auseinander, sie wurde eine Beute der Anarchie, und die Anarchie ist das
Uebel, dem kein Volk sich so bereitwillig hingiebt und das doch kein Volk so
wenig vertragen kann, als das französische, das in allen Gebieten des geistigen,
sittlichen, wirthschaftlichen, politischen Lebens heute unbedingt der Regel hul¬
digt, morgen sich gegen sie empört, um nach einer Periode wüster Orgien der
Anarchie von Neuem sein Heil in der Unterwerfung unter den schroffsten
und willkürlichsten Zwang zu suchen.

Fand die gebildete tonangebende Gesellschaft nicht mehr in sich selbst
ihren Schwerpunkt, in ihren Salons ihren Vereinigungspunkt, so mußte sie
sich einen außer ihr liegenden Schwerpunkt suchen, da sie die individuelle Jso-
lirung auf die Dauer nicht ertragen konnte. Der Hof des Kaisers vermochte
wie gesagt nicht, Anziehungskraft auszuüben, und so bildeten sich denn jene
nahen und offen zur Schau getragenen Beziehungen der vornehmen und
reichen Welt zu der weiblichen Halbwelt aus. die für die Zeit des Kaiser-
thums charakteristisch sind- Nicht als ob diese Erscheinung bis dahin unbe¬
kannt gewesen wäre. Aber von den herkömmlichen Studentenliebschaften bis
zu der Maitressenherrschaft der fünfziger und sechziger Jahre ist doch ein
weiter Abstand. Das Treiben der Grisetten, so verderblich auch sein Einfluß
auf die gebildete Jugend von jeher war, ist anspruchslos und harmlos im
Vergleich mit der aufdringlichen Prunksucht und der übermüthigen Verschwen¬
dung, der Anziehungskraft auf die vornehmsten Kreise, welche die zweideutige
Frauenwelt der neuesten Zeit charakterisirt.

Schon die bekannten Romane Eugen Sue's aus der zweiten Periode seiner
einflußreichen schriftstellerischen Wirksamkeit hatten die Beziehungen der vor¬
nehmen Welt zu den Tiefen der Gesellschaft zum Gegenstande. In der
Schilderung dieser Beziehungen lag die eigenthümliche Anziehungskraft, die
diese Romane ihrer Zeit ausübten, nicht in den socialistischen Grundsätzen,
die der Verfasser zu Markte brachte, um seinen zugleich abstoßenden und ver¬
lockenden Schilderungen des Pariser Treibens einen wissenschaftlichen und po-


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[0331] schaftlichen Lebens. Bei allem byzantinischen Prunk fehlte es doch dem Hofe sowohl an gewähltem Geschmack, wie an Geist. Denn fast Alles, was aus Geist und feinere Bildung Anspruch machen konnte, gehörte der alten politischen Schule an, und hielt sich von der soldatisch-büreaukratischen und dabei mit abenteuernden Elementen zweifelhaften Rufes durchsetzten Hof¬ gesellschaft fern. Diese älteren Elemente, in denen die Ueberlieferungen des glänzenden wissenschaftlichen und literarischen Aufschwunges der zwan¬ ziger und dreißiger Jahre noch fortlebten, waren nur dünn gesäet; sie hatten außerdem durch ihr selbstverschuldetes politisches Mißgeschick an ihrer Lebenskraft eingebüßt, sie waren zu sehr zu Ruinen geworden, um der gebil¬ deten Gesellschaft als Krystallisationspunkt zu dienen. Die Gesellschaft fiel auseinander, sie wurde eine Beute der Anarchie, und die Anarchie ist das Uebel, dem kein Volk sich so bereitwillig hingiebt und das doch kein Volk so wenig vertragen kann, als das französische, das in allen Gebieten des geistigen, sittlichen, wirthschaftlichen, politischen Lebens heute unbedingt der Regel hul¬ digt, morgen sich gegen sie empört, um nach einer Periode wüster Orgien der Anarchie von Neuem sein Heil in der Unterwerfung unter den schroffsten und willkürlichsten Zwang zu suchen. Fand die gebildete tonangebende Gesellschaft nicht mehr in sich selbst ihren Schwerpunkt, in ihren Salons ihren Vereinigungspunkt, so mußte sie sich einen außer ihr liegenden Schwerpunkt suchen, da sie die individuelle Jso- lirung auf die Dauer nicht ertragen konnte. Der Hof des Kaisers vermochte wie gesagt nicht, Anziehungskraft auszuüben, und so bildeten sich denn jene nahen und offen zur Schau getragenen Beziehungen der vornehmen und reichen Welt zu der weiblichen Halbwelt aus. die für die Zeit des Kaiser- thums charakteristisch sind- Nicht als ob diese Erscheinung bis dahin unbe¬ kannt gewesen wäre. Aber von den herkömmlichen Studentenliebschaften bis zu der Maitressenherrschaft der fünfziger und sechziger Jahre ist doch ein weiter Abstand. Das Treiben der Grisetten, so verderblich auch sein Einfluß auf die gebildete Jugend von jeher war, ist anspruchslos und harmlos im Vergleich mit der aufdringlichen Prunksucht und der übermüthigen Verschwen¬ dung, der Anziehungskraft auf die vornehmsten Kreise, welche die zweideutige Frauenwelt der neuesten Zeit charakterisirt. Schon die bekannten Romane Eugen Sue's aus der zweiten Periode seiner einflußreichen schriftstellerischen Wirksamkeit hatten die Beziehungen der vor¬ nehmen Welt zu den Tiefen der Gesellschaft zum Gegenstande. In der Schilderung dieser Beziehungen lag die eigenthümliche Anziehungskraft, die diese Romane ihrer Zeit ausübten, nicht in den socialistischen Grundsätzen, die der Verfasser zu Markte brachte, um seinen zugleich abstoßenden und ver¬ lockenden Schilderungen des Pariser Treibens einen wissenschaftlichen und po-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/331>, abgerufen am 22.07.2024.