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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Kur MraKteristiK des neuesten französischen Iramas.
Adolf Nutenberg, die dramatischen Dichter des zweiten Kaiserreichs.

Diese im Jahre 1869, also noch vor dem Kriege, abgefaßte Schrift ist
ein werthvoller Beitrag nicht nur zur neuesten französischen Literaturgeschichte
sondern auch zur Kenntniß der sittlichen und geistigen Zustände, wie sie sich in
Frankreich seit 3 Jahrzehnten entwickelt haben, zum Theil unter dem Ein¬
flüsse des kaiserlichen Systems, zum Theil aber auch unabhängig von dem¬
selben, ihren eigenen, schon aus einer früheren Zeit überkommenen Antrieben
folgend. Denn die Anfänge des Verfalls, der unter dem Kaiserthum die
geistige und sittliche Kraft der Nation zu Grunde richtete, liegen, was unser
Verfasser nicht genügend hervortreten läßt, vor dem napoleonischen Staats¬
streich. Hätte die französische Gesellschaft einen kräftigen Halt in sich selbst
besessen, so würde sie sich nicht einem Manne in die Arme geworfen haben,
der, bevor er ernsthaft als Throncandidat auftrat, sich nur einen Ruf als
zäher und verwegner Abenteurer erworben hatte. Die Koalition der monarchi¬
schen Opposition unter Ludwig Philipp mit den Republikanern, der Leicht¬
sinn, mit dem die frondirenden Orleanisten, Thiers an der Spitze, sich der
Leitung ihrer radicalen Verbündeten überließen, die Februarrevolution, die
vollständige Unfähigkeit der sämmtlichen Parteien, den Umtrieben des Prinzen
Napoleon einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen, das sind Erschei¬
nungen, wie sie nur in einer sittlich ganz zerrütteten Gesellschaft vor¬
kommen können.

. Der Verfall der Gesellschaft hatte Napoleon den Weg zur Präsident¬
schaft und zum Throne gebahnt, Frankreich hatte sich ihm hingegeben, weil
es von ihm und nicht von der tiefzerklüfteten'Nationalversammlung seine
Rettung erwartete. Napoleon hatte sich als Gesellschaftsretter angekündigt
und keine Polemik seiner Gegner kann die Thatsache aus der Welt schaffen,
daß die ungeheure Mehrheit der Franzosen ihm die Fähigkeit zu der in An¬
spruch genommenen Retterrolle zutraute und mit der Art und Weise, wie er seine
Rettungsversuche ins Werk setzte, vollkommen zufrieden war. Denn er gab Frank¬
reich zurück, was es lange vermißt hatte: das Gefühl der Sicherheit gegenüber
den revolutionären Leidenschaften, das Vertrauen, daß der Mann, dem es


Grenzboten II. 1872. 41
Kur MraKteristiK des neuesten französischen Iramas.
Adolf Nutenberg, die dramatischen Dichter des zweiten Kaiserreichs.

Diese im Jahre 1869, also noch vor dem Kriege, abgefaßte Schrift ist
ein werthvoller Beitrag nicht nur zur neuesten französischen Literaturgeschichte
sondern auch zur Kenntniß der sittlichen und geistigen Zustände, wie sie sich in
Frankreich seit 3 Jahrzehnten entwickelt haben, zum Theil unter dem Ein¬
flüsse des kaiserlichen Systems, zum Theil aber auch unabhängig von dem¬
selben, ihren eigenen, schon aus einer früheren Zeit überkommenen Antrieben
folgend. Denn die Anfänge des Verfalls, der unter dem Kaiserthum die
geistige und sittliche Kraft der Nation zu Grunde richtete, liegen, was unser
Verfasser nicht genügend hervortreten läßt, vor dem napoleonischen Staats¬
streich. Hätte die französische Gesellschaft einen kräftigen Halt in sich selbst
besessen, so würde sie sich nicht einem Manne in die Arme geworfen haben,
der, bevor er ernsthaft als Throncandidat auftrat, sich nur einen Ruf als
zäher und verwegner Abenteurer erworben hatte. Die Koalition der monarchi¬
schen Opposition unter Ludwig Philipp mit den Republikanern, der Leicht¬
sinn, mit dem die frondirenden Orleanisten, Thiers an der Spitze, sich der
Leitung ihrer radicalen Verbündeten überließen, die Februarrevolution, die
vollständige Unfähigkeit der sämmtlichen Parteien, den Umtrieben des Prinzen
Napoleon einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen, das sind Erschei¬
nungen, wie sie nur in einer sittlich ganz zerrütteten Gesellschaft vor¬
kommen können.

. Der Verfall der Gesellschaft hatte Napoleon den Weg zur Präsident¬
schaft und zum Throne gebahnt, Frankreich hatte sich ihm hingegeben, weil
es von ihm und nicht von der tiefzerklüfteten'Nationalversammlung seine
Rettung erwartete. Napoleon hatte sich als Gesellschaftsretter angekündigt
und keine Polemik seiner Gegner kann die Thatsache aus der Welt schaffen,
daß die ungeheure Mehrheit der Franzosen ihm die Fähigkeit zu der in An¬
spruch genommenen Retterrolle zutraute und mit der Art und Weise, wie er seine
Rettungsversuche ins Werk setzte, vollkommen zufrieden war. Denn er gab Frank¬
reich zurück, was es lange vermißt hatte: das Gefühl der Sicherheit gegenüber
den revolutionären Leidenschaften, das Vertrauen, daß der Mann, dem es


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[0329] Kur MraKteristiK des neuesten französischen Iramas. Adolf Nutenberg, die dramatischen Dichter des zweiten Kaiserreichs. Diese im Jahre 1869, also noch vor dem Kriege, abgefaßte Schrift ist ein werthvoller Beitrag nicht nur zur neuesten französischen Literaturgeschichte sondern auch zur Kenntniß der sittlichen und geistigen Zustände, wie sie sich in Frankreich seit 3 Jahrzehnten entwickelt haben, zum Theil unter dem Ein¬ flüsse des kaiserlichen Systems, zum Theil aber auch unabhängig von dem¬ selben, ihren eigenen, schon aus einer früheren Zeit überkommenen Antrieben folgend. Denn die Anfänge des Verfalls, der unter dem Kaiserthum die geistige und sittliche Kraft der Nation zu Grunde richtete, liegen, was unser Verfasser nicht genügend hervortreten läßt, vor dem napoleonischen Staats¬ streich. Hätte die französische Gesellschaft einen kräftigen Halt in sich selbst besessen, so würde sie sich nicht einem Manne in die Arme geworfen haben, der, bevor er ernsthaft als Throncandidat auftrat, sich nur einen Ruf als zäher und verwegner Abenteurer erworben hatte. Die Koalition der monarchi¬ schen Opposition unter Ludwig Philipp mit den Republikanern, der Leicht¬ sinn, mit dem die frondirenden Orleanisten, Thiers an der Spitze, sich der Leitung ihrer radicalen Verbündeten überließen, die Februarrevolution, die vollständige Unfähigkeit der sämmtlichen Parteien, den Umtrieben des Prinzen Napoleon einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen, das sind Erschei¬ nungen, wie sie nur in einer sittlich ganz zerrütteten Gesellschaft vor¬ kommen können. . Der Verfall der Gesellschaft hatte Napoleon den Weg zur Präsident¬ schaft und zum Throne gebahnt, Frankreich hatte sich ihm hingegeben, weil es von ihm und nicht von der tiefzerklüfteten'Nationalversammlung seine Rettung erwartete. Napoleon hatte sich als Gesellschaftsretter angekündigt und keine Polemik seiner Gegner kann die Thatsache aus der Welt schaffen, daß die ungeheure Mehrheit der Franzosen ihm die Fähigkeit zu der in An¬ spruch genommenen Retterrolle zutraute und mit der Art und Weise, wie er seine Rettungsversuche ins Werk setzte, vollkommen zufrieden war. Denn er gab Frank¬ reich zurück, was es lange vermißt hatte: das Gefühl der Sicherheit gegenüber den revolutionären Leidenschaften, das Vertrauen, daß der Mann, dem es Grenzboten II. 1872. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/329>, abgerufen am 22.12.2024.