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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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centrifugalen Kräfte, aber nicht die reichsfreundlichen und patriotischen zu
finden erwartet habe und daß nur der Mangel des Gefühls staatlicher
Verantwortlichkeit diese Erscheinung, wenn auch in unerfreulicher Weise, er¬
klärlich mache.

Der Antrag Hoverbeck wurde dem Berichterstatter des Hauses über die
fünfte Gruppe des Reichshaushaltes überwiesen, desgleichen ein Antrag des
conservativen Abgeordneten Stumm und Genossen, welcher Ersatzmittel für
die aufzuhebende Salzsteuer vorschlägt. Ein Conflict liegt also bis jetzt nicht
vor und kann an sich ohne Schwierigkeit vermieden werden. Aber der Reichs¬
kanzler hat sich mit starkem Nachdruck erklärt, wie schwer er der national¬
liberalen Partei -- denn diese meinte er, ohne sie zu nennen -- anrechnen
müßte, wenn sie sich von der Fortschrittspartei zur Minderung der dem Reich
eignen Einnahmen ins Schlepptau nehmen ließe, um den Reichshaushalt auf
Zufälligkeiten, auf Matricularbeiträge oder auf alljährlich neu aufzufindende
Aushülfsmittel anzuweisen. Die Salzsteuer mag fallen, aber unter der Be¬
dingung eines genügenden Ersatzes, der vor ihrer Aufhebung gesichert sein muß.

Leider bin ich mit der Aufzählung ungünstiger Anzeichen für den gedeih¬
lichen Fortgang der Session noch nicht zu Ende. Das Militärstrafgesetzbuch,
welches in einer Commission vorberathen wird, hat den Zwiespalt der mili¬
tärischen und der bürgerlich-juristischen Gesichtspunkte aufgedeckt. Die Letztern
betrachten die Strafe im Wesentlichen als Buße, die Erstern als disciplinari-
fches Abschreckungsmittel. Die Kriegsverständigen fragen blos: können wir
ohne die Härte gewisser Strafen das Uebel der Undisciplin, welches gelegent¬
lich von wenigen Subjecten aus epidemisch und verderblich um sich greifen
kann, in Schranken halten? Die bürgerlichen Juristen fragen blos: ist ge¬
schärfter Arrest für dies und dies Vergehen nicht eine zu harte Buße? Die
bürgerlichen Juristen betrachten die militärischen Vergehen blos in ihrer Be¬
ziehung auf die Gesinnung des Schuldigen; die Heerführer betrachten diese
Vergehen blos in ihrer Wirkung auf den Geist der Armee.

Gestatten Sie Ihrem Berichterstatter eine radicale Aeußerung, bei der er
gern den Vorbehalt Ihrer abweichenden Ansicht anerkennt, wie in allen ähn¬
lichen Fällen.

Das Militärstrafrecht, sofern es nicht Vergehen gegen Civilpersonen zu
ahnden hat, sollte durch die königliche Verordnungsgewalt festgestellt werden.
Gneist sprach kürzlich den Satz aus, dessen Wahrheit ein Leitstern des Staats¬
lebens werden wird, je ernster und größer unsere Staatsaufgabe wird: "Die
Gesetze soll nur geben, wer sie ausführt." Ein bürgerliches Parlament wird
um so vollkommener sein, je mehr es aus Personen besteht, die an der Aus¬
führung betheiligt sind; und diese Bedingung ist keine schwere, je mehr wir


centrifugalen Kräfte, aber nicht die reichsfreundlichen und patriotischen zu
finden erwartet habe und daß nur der Mangel des Gefühls staatlicher
Verantwortlichkeit diese Erscheinung, wenn auch in unerfreulicher Weise, er¬
klärlich mache.

Der Antrag Hoverbeck wurde dem Berichterstatter des Hauses über die
fünfte Gruppe des Reichshaushaltes überwiesen, desgleichen ein Antrag des
conservativen Abgeordneten Stumm und Genossen, welcher Ersatzmittel für
die aufzuhebende Salzsteuer vorschlägt. Ein Conflict liegt also bis jetzt nicht
vor und kann an sich ohne Schwierigkeit vermieden werden. Aber der Reichs¬
kanzler hat sich mit starkem Nachdruck erklärt, wie schwer er der national¬
liberalen Partei — denn diese meinte er, ohne sie zu nennen — anrechnen
müßte, wenn sie sich von der Fortschrittspartei zur Minderung der dem Reich
eignen Einnahmen ins Schlepptau nehmen ließe, um den Reichshaushalt auf
Zufälligkeiten, auf Matricularbeiträge oder auf alljährlich neu aufzufindende
Aushülfsmittel anzuweisen. Die Salzsteuer mag fallen, aber unter der Be¬
dingung eines genügenden Ersatzes, der vor ihrer Aufhebung gesichert sein muß.

Leider bin ich mit der Aufzählung ungünstiger Anzeichen für den gedeih¬
lichen Fortgang der Session noch nicht zu Ende. Das Militärstrafgesetzbuch,
welches in einer Commission vorberathen wird, hat den Zwiespalt der mili¬
tärischen und der bürgerlich-juristischen Gesichtspunkte aufgedeckt. Die Letztern
betrachten die Strafe im Wesentlichen als Buße, die Erstern als disciplinari-
fches Abschreckungsmittel. Die Kriegsverständigen fragen blos: können wir
ohne die Härte gewisser Strafen das Uebel der Undisciplin, welches gelegent¬
lich von wenigen Subjecten aus epidemisch und verderblich um sich greifen
kann, in Schranken halten? Die bürgerlichen Juristen fragen blos: ist ge¬
schärfter Arrest für dies und dies Vergehen nicht eine zu harte Buße? Die
bürgerlichen Juristen betrachten die militärischen Vergehen blos in ihrer Be¬
ziehung auf die Gesinnung des Schuldigen; die Heerführer betrachten diese
Vergehen blos in ihrer Wirkung auf den Geist der Armee.

Gestatten Sie Ihrem Berichterstatter eine radicale Aeußerung, bei der er
gern den Vorbehalt Ihrer abweichenden Ansicht anerkennt, wie in allen ähn¬
lichen Fällen.

Das Militärstrafrecht, sofern es nicht Vergehen gegen Civilpersonen zu
ahnden hat, sollte durch die königliche Verordnungsgewalt festgestellt werden.
Gneist sprach kürzlich den Satz aus, dessen Wahrheit ein Leitstern des Staats¬
lebens werden wird, je ernster und größer unsere Staatsaufgabe wird: „Die
Gesetze soll nur geben, wer sie ausführt." Ein bürgerliches Parlament wird
um so vollkommener sein, je mehr es aus Personen besteht, die an der Aus¬
führung betheiligt sind; und diese Bedingung ist keine schwere, je mehr wir


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[0286] centrifugalen Kräfte, aber nicht die reichsfreundlichen und patriotischen zu finden erwartet habe und daß nur der Mangel des Gefühls staatlicher Verantwortlichkeit diese Erscheinung, wenn auch in unerfreulicher Weise, er¬ klärlich mache. Der Antrag Hoverbeck wurde dem Berichterstatter des Hauses über die fünfte Gruppe des Reichshaushaltes überwiesen, desgleichen ein Antrag des conservativen Abgeordneten Stumm und Genossen, welcher Ersatzmittel für die aufzuhebende Salzsteuer vorschlägt. Ein Conflict liegt also bis jetzt nicht vor und kann an sich ohne Schwierigkeit vermieden werden. Aber der Reichs¬ kanzler hat sich mit starkem Nachdruck erklärt, wie schwer er der national¬ liberalen Partei — denn diese meinte er, ohne sie zu nennen — anrechnen müßte, wenn sie sich von der Fortschrittspartei zur Minderung der dem Reich eignen Einnahmen ins Schlepptau nehmen ließe, um den Reichshaushalt auf Zufälligkeiten, auf Matricularbeiträge oder auf alljährlich neu aufzufindende Aushülfsmittel anzuweisen. Die Salzsteuer mag fallen, aber unter der Be¬ dingung eines genügenden Ersatzes, der vor ihrer Aufhebung gesichert sein muß. Leider bin ich mit der Aufzählung ungünstiger Anzeichen für den gedeih¬ lichen Fortgang der Session noch nicht zu Ende. Das Militärstrafgesetzbuch, welches in einer Commission vorberathen wird, hat den Zwiespalt der mili¬ tärischen und der bürgerlich-juristischen Gesichtspunkte aufgedeckt. Die Letztern betrachten die Strafe im Wesentlichen als Buße, die Erstern als disciplinari- fches Abschreckungsmittel. Die Kriegsverständigen fragen blos: können wir ohne die Härte gewisser Strafen das Uebel der Undisciplin, welches gelegent¬ lich von wenigen Subjecten aus epidemisch und verderblich um sich greifen kann, in Schranken halten? Die bürgerlichen Juristen fragen blos: ist ge¬ schärfter Arrest für dies und dies Vergehen nicht eine zu harte Buße? Die bürgerlichen Juristen betrachten die militärischen Vergehen blos in ihrer Be¬ ziehung auf die Gesinnung des Schuldigen; die Heerführer betrachten diese Vergehen blos in ihrer Wirkung auf den Geist der Armee. Gestatten Sie Ihrem Berichterstatter eine radicale Aeußerung, bei der er gern den Vorbehalt Ihrer abweichenden Ansicht anerkennt, wie in allen ähn¬ lichen Fällen. Das Militärstrafrecht, sofern es nicht Vergehen gegen Civilpersonen zu ahnden hat, sollte durch die königliche Verordnungsgewalt festgestellt werden. Gneist sprach kürzlich den Satz aus, dessen Wahrheit ein Leitstern des Staats¬ lebens werden wird, je ernster und größer unsere Staatsaufgabe wird: „Die Gesetze soll nur geben, wer sie ausführt." Ein bürgerliches Parlament wird um so vollkommener sein, je mehr es aus Personen besteht, die an der Aus¬ führung betheiligt sind; und diese Bedingung ist keine schwere, je mehr wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/286>, abgerufen am 22.07.2024.