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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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seine Aufgaben herzustellen. Nimmer aber darf er sich zum Ziel setzen, besser
als seine Mitschüler zu arbeiten, sie zu überflügeln, sie zu übertreffen; nie
darf er sich gestatten, ihre Vorzüge zu beneiden, über ihr Zurückbleiben zu
triumphiren. In diesem Fall ist das Ehrgefühl zum Ehrgeiz entartet. Die
Erziehung der Jesuiten hat in systematischer, raffinirter Weise die Entwicke¬
lung des Ehrgeizes sich zur Aufgabe gestellt. Jeder Schüler bekommt einen
Nebenbuhler, jede Classe wird in Hälften getheilt; an der Spitze einer jeden
Obrigkeiten mit klangvollen, aus Roms und Griechenlands Staatswesen ent¬
lehnten Namen. Diese Parteien sind im steten Kampf, immer begierig durch
schwierige Fragen die Nebenbuhler von ihren Sitzen zu treiben und sich selbst
an ihre Stelle zu setzen. "Sonnabends und an Vacanztagen war das Schlacht¬
feld am ausgedehntesten; aber auch an jedem andern Tage war früh und
Nachmittags eine halbe Stunde planmäßig nur hierzu angesetzt; die Zeit,
welche von andern Lectionen übrig blieb, wurde von "heiligem Wetteifer" ver¬
zehrt, durch alle Lectionen außerdem züngelte sich dies belebende Feuer. Nur
dem Zeitmaße nach entbrannte der Kampf schon in dem Viertheil der ganzen
Schulzeit."*)

Wurden doch selbst ganze Classen zum Wettkampf aufgeboten. Und doch
wie harmlos erscheint diese Rivalität gegenüber der Verwerthung des Ehr¬
geizes in disciplinarischer Hinsicht. So sollen "die einander als Nebenbuhler
gegenüberstehen, es notiren, wann gegen die Feinheit der Sitte gefehlt wird."
Und ist Jemand bestraft worden, weil er statt der lateinischen die Mutter¬
sprache geredet hat -- denn für letztere sind nur die Erholungsstunden und
die Vacanztage eingeräumt --, so kann er von der Strafe frei werden, wenn
er sie einem Mitschüler zuwendet, den er in der Schule oder auf der Gasse
ebenfalls die gemeine Sprache reden gehört oder den er wenigstens durch einen
tauglichen Zeugen überführen kann."") Das geeignetste Mittel, den Ehrgeiz
zu wecken, ist die Hoffnung auf Belohnung, die Furcht vor der Strafe. Es
fällt uns natürlich nicht ein, diese Motive zum Fleiß und zur Tüchtigkeit zu
mißbilligen, wohl aber müssen wir ihre Entartung im Lehrsystem der Jesuiten
tadeln. Die Anerkennung des Lehrers, die Unzufriedenheit des Lehrers, der
Persönlichkeit, die dem Schüler die höchste Autorität sein soll -- muß ihm
auch von dem höchsten Werthe sein, denn sie ist nichts anderes als die legi- .
einöde Schätzung seiner Leistungen, die Schätzung seiner selbst. Aber den
Jesuiten kommt es nicht darauf an, sondern sie wollen vielmehr die Ehre des
Schülers vor der Classe, der Schule oder einem größeren Publicum und an¬
dererseits die Ehrlosigkeit der Schüler vor diesen Kreisen zu den kräftigsten




-) Welcker a. o. O. S. 196.
") Raumer a. a. O. S. 312, 313.

seine Aufgaben herzustellen. Nimmer aber darf er sich zum Ziel setzen, besser
als seine Mitschüler zu arbeiten, sie zu überflügeln, sie zu übertreffen; nie
darf er sich gestatten, ihre Vorzüge zu beneiden, über ihr Zurückbleiben zu
triumphiren. In diesem Fall ist das Ehrgefühl zum Ehrgeiz entartet. Die
Erziehung der Jesuiten hat in systematischer, raffinirter Weise die Entwicke¬
lung des Ehrgeizes sich zur Aufgabe gestellt. Jeder Schüler bekommt einen
Nebenbuhler, jede Classe wird in Hälften getheilt; an der Spitze einer jeden
Obrigkeiten mit klangvollen, aus Roms und Griechenlands Staatswesen ent¬
lehnten Namen. Diese Parteien sind im steten Kampf, immer begierig durch
schwierige Fragen die Nebenbuhler von ihren Sitzen zu treiben und sich selbst
an ihre Stelle zu setzen. „Sonnabends und an Vacanztagen war das Schlacht¬
feld am ausgedehntesten; aber auch an jedem andern Tage war früh und
Nachmittags eine halbe Stunde planmäßig nur hierzu angesetzt; die Zeit,
welche von andern Lectionen übrig blieb, wurde von „heiligem Wetteifer" ver¬
zehrt, durch alle Lectionen außerdem züngelte sich dies belebende Feuer. Nur
dem Zeitmaße nach entbrannte der Kampf schon in dem Viertheil der ganzen
Schulzeit."*)

Wurden doch selbst ganze Classen zum Wettkampf aufgeboten. Und doch
wie harmlos erscheint diese Rivalität gegenüber der Verwerthung des Ehr¬
geizes in disciplinarischer Hinsicht. So sollen „die einander als Nebenbuhler
gegenüberstehen, es notiren, wann gegen die Feinheit der Sitte gefehlt wird."
Und ist Jemand bestraft worden, weil er statt der lateinischen die Mutter¬
sprache geredet hat — denn für letztere sind nur die Erholungsstunden und
die Vacanztage eingeräumt —, so kann er von der Strafe frei werden, wenn
er sie einem Mitschüler zuwendet, den er in der Schule oder auf der Gasse
ebenfalls die gemeine Sprache reden gehört oder den er wenigstens durch einen
tauglichen Zeugen überführen kann."") Das geeignetste Mittel, den Ehrgeiz
zu wecken, ist die Hoffnung auf Belohnung, die Furcht vor der Strafe. Es
fällt uns natürlich nicht ein, diese Motive zum Fleiß und zur Tüchtigkeit zu
mißbilligen, wohl aber müssen wir ihre Entartung im Lehrsystem der Jesuiten
tadeln. Die Anerkennung des Lehrers, die Unzufriedenheit des Lehrers, der
Persönlichkeit, die dem Schüler die höchste Autorität sein soll — muß ihm
auch von dem höchsten Werthe sein, denn sie ist nichts anderes als die legi- .
einöde Schätzung seiner Leistungen, die Schätzung seiner selbst. Aber den
Jesuiten kommt es nicht darauf an, sondern sie wollen vielmehr die Ehre des
Schülers vor der Classe, der Schule oder einem größeren Publicum und an¬
dererseits die Ehrlosigkeit der Schüler vor diesen Kreisen zu den kräftigsten




-) Welcker a. o. O. S. 196.
") Raumer a. a. O. S. 312, 313.
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[0261] seine Aufgaben herzustellen. Nimmer aber darf er sich zum Ziel setzen, besser als seine Mitschüler zu arbeiten, sie zu überflügeln, sie zu übertreffen; nie darf er sich gestatten, ihre Vorzüge zu beneiden, über ihr Zurückbleiben zu triumphiren. In diesem Fall ist das Ehrgefühl zum Ehrgeiz entartet. Die Erziehung der Jesuiten hat in systematischer, raffinirter Weise die Entwicke¬ lung des Ehrgeizes sich zur Aufgabe gestellt. Jeder Schüler bekommt einen Nebenbuhler, jede Classe wird in Hälften getheilt; an der Spitze einer jeden Obrigkeiten mit klangvollen, aus Roms und Griechenlands Staatswesen ent¬ lehnten Namen. Diese Parteien sind im steten Kampf, immer begierig durch schwierige Fragen die Nebenbuhler von ihren Sitzen zu treiben und sich selbst an ihre Stelle zu setzen. „Sonnabends und an Vacanztagen war das Schlacht¬ feld am ausgedehntesten; aber auch an jedem andern Tage war früh und Nachmittags eine halbe Stunde planmäßig nur hierzu angesetzt; die Zeit, welche von andern Lectionen übrig blieb, wurde von „heiligem Wetteifer" ver¬ zehrt, durch alle Lectionen außerdem züngelte sich dies belebende Feuer. Nur dem Zeitmaße nach entbrannte der Kampf schon in dem Viertheil der ganzen Schulzeit."*) Wurden doch selbst ganze Classen zum Wettkampf aufgeboten. Und doch wie harmlos erscheint diese Rivalität gegenüber der Verwerthung des Ehr¬ geizes in disciplinarischer Hinsicht. So sollen „die einander als Nebenbuhler gegenüberstehen, es notiren, wann gegen die Feinheit der Sitte gefehlt wird." Und ist Jemand bestraft worden, weil er statt der lateinischen die Mutter¬ sprache geredet hat — denn für letztere sind nur die Erholungsstunden und die Vacanztage eingeräumt —, so kann er von der Strafe frei werden, wenn er sie einem Mitschüler zuwendet, den er in der Schule oder auf der Gasse ebenfalls die gemeine Sprache reden gehört oder den er wenigstens durch einen tauglichen Zeugen überführen kann."") Das geeignetste Mittel, den Ehrgeiz zu wecken, ist die Hoffnung auf Belohnung, die Furcht vor der Strafe. Es fällt uns natürlich nicht ein, diese Motive zum Fleiß und zur Tüchtigkeit zu mißbilligen, wohl aber müssen wir ihre Entartung im Lehrsystem der Jesuiten tadeln. Die Anerkennung des Lehrers, die Unzufriedenheit des Lehrers, der Persönlichkeit, die dem Schüler die höchste Autorität sein soll — muß ihm auch von dem höchsten Werthe sein, denn sie ist nichts anderes als die legi- . einöde Schätzung seiner Leistungen, die Schätzung seiner selbst. Aber den Jesuiten kommt es nicht darauf an, sondern sie wollen vielmehr die Ehre des Schülers vor der Classe, der Schule oder einem größeren Publicum und an¬ dererseits die Ehrlosigkeit der Schüler vor diesen Kreisen zu den kräftigsten -) Welcker a. o. O. S. 196. ") Raumer a. a. O. S. 312, 313.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/261>, abgerufen am 22.07.2024.