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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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und gefährlich genug. Der wilde Wahnsinn, von dem ein Theil der pariser
Bevölkerung im Frühling des vorigen Jahres Proben abgelegt hat, glimmt
in ganz Europa, und wenn wir auch keinen definitiven Sieg der socialen
Revolution zu fürchten haben, so können doch alle großen Städte eines Tages
der Schauplatz von ebenso tragischen Ereignissen werden, wie die, welche
Paris betroffen haben. Es ist das eine Gefahr, auf welche man die
Aufmerksamkeit des Publicums nicht genug lenken kann. Wir haben in dieser
Beziehung unsre Pflicht erfüllt. Mögen andere, denen sie auch obliegt immer
,
-- o -- und immer wieder desgleichen thun.




Aus dem englischen Leben.
Das Foundling-Hospital zu London.

Wenn man aufmerksam die civilen Institutionen der europäischen Völker
in ihrer Gesammtheit betrachtet, so gewahrt man, daß diese nicht nur auf
ganz verschiedenen Principien beruhen, sondern häufig auf diametral einander
entgegengesetzten. Um sich hiervon zu überzeugen hat man nur auf die Con¬
traste zu blicken, die zwischen der Erziehung der beiden Geschlechter auf der
einen Seite in Frankreich, auf der anderen in England und Deutschland exi-
stiren. Diese Gegensätze, welche die unterscheidenden Züge des National-
charakters hervorheben, sind noch viel frappanter, wenn man sie in Verbin¬
dung mit Gegenständen reiner Philanthropie betrachtet, die dem Anschein nach
doch nur ein einziges Princip, eine einzige Anschauungsweise zulassen sollten.
Dieß gilt namentlich von den Ausnahmestätten und Versorgungsanstalten
für verlassene oder ausgesetzte Kinder. Die verschiedene Anschauungsweise
dieser Frage theilt die Staaten Europas in zwei strenggeschiedene Gruppen.
In der einen existiren Anstalten, die ohne Unterschied alle präsen-
tirten Kinder aufnehmen; in der anderen unterstützt man nur die Waisen
oder jene Klasse von Kindern, deren Eltern entweder bürgerlich oder politisch
todt sind. Die romanischen Nationen haben das erste System angenommen,
die germanischen das letztere. Die beiden Unterstützungsmethoden, von denen
die eine sich auf Se. Vincent de Paul, die andere auf Hermann Franke zu¬
rückführen lassen, sind bekannt unter dem Namen katholisches und protestan¬
tisches System. Bei den romanischen oder katholischen Völkern macht sich
die Gesellschaft für die Fehltritte ihrer Glieder haftbar, während bei den
germanischen oder protestantischen jedes Individuum die ganze Verantwortlich¬
keit für sich allein trägt. England, das, wenn es dies auch nicht alle Zeit zu¬
gestehen will, durch und durch germanisch ist, mußte sich demnach auch, als


und gefährlich genug. Der wilde Wahnsinn, von dem ein Theil der pariser
Bevölkerung im Frühling des vorigen Jahres Proben abgelegt hat, glimmt
in ganz Europa, und wenn wir auch keinen definitiven Sieg der socialen
Revolution zu fürchten haben, so können doch alle großen Städte eines Tages
der Schauplatz von ebenso tragischen Ereignissen werden, wie die, welche
Paris betroffen haben. Es ist das eine Gefahr, auf welche man die
Aufmerksamkeit des Publicums nicht genug lenken kann. Wir haben in dieser
Beziehung unsre Pflicht erfüllt. Mögen andere, denen sie auch obliegt immer
,
— o — und immer wieder desgleichen thun.




Aus dem englischen Leben.
Das Foundling-Hospital zu London.

Wenn man aufmerksam die civilen Institutionen der europäischen Völker
in ihrer Gesammtheit betrachtet, so gewahrt man, daß diese nicht nur auf
ganz verschiedenen Principien beruhen, sondern häufig auf diametral einander
entgegengesetzten. Um sich hiervon zu überzeugen hat man nur auf die Con¬
traste zu blicken, die zwischen der Erziehung der beiden Geschlechter auf der
einen Seite in Frankreich, auf der anderen in England und Deutschland exi-
stiren. Diese Gegensätze, welche die unterscheidenden Züge des National-
charakters hervorheben, sind noch viel frappanter, wenn man sie in Verbin¬
dung mit Gegenständen reiner Philanthropie betrachtet, die dem Anschein nach
doch nur ein einziges Princip, eine einzige Anschauungsweise zulassen sollten.
Dieß gilt namentlich von den Ausnahmestätten und Versorgungsanstalten
für verlassene oder ausgesetzte Kinder. Die verschiedene Anschauungsweise
dieser Frage theilt die Staaten Europas in zwei strenggeschiedene Gruppen.
In der einen existiren Anstalten, die ohne Unterschied alle präsen-
tirten Kinder aufnehmen; in der anderen unterstützt man nur die Waisen
oder jene Klasse von Kindern, deren Eltern entweder bürgerlich oder politisch
todt sind. Die romanischen Nationen haben das erste System angenommen,
die germanischen das letztere. Die beiden Unterstützungsmethoden, von denen
die eine sich auf Se. Vincent de Paul, die andere auf Hermann Franke zu¬
rückführen lassen, sind bekannt unter dem Namen katholisches und protestan¬
tisches System. Bei den romanischen oder katholischen Völkern macht sich
die Gesellschaft für die Fehltritte ihrer Glieder haftbar, während bei den
germanischen oder protestantischen jedes Individuum die ganze Verantwortlich¬
keit für sich allein trägt. England, das, wenn es dies auch nicht alle Zeit zu¬
gestehen will, durch und durch germanisch ist, mußte sich demnach auch, als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/232>, abgerufen am 22.07.2024.