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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Wie schnell soll also der akademische Lehrer sprechen? Schon die Verhält¬
nisse des Raumes, in welchem man spricht, sind hier nicht zu übersehen: je
größer das Local, um so langsamer muß man reden, wofür die Er¬
klärung in bekannten physikalischen Gesetzen der Bewegung der Luftwellen
liegt. Abgesehen indessen von diesem Umstände, der zu manchen Modifika¬
tionen des Tempos Veranlassung giebt, ist die Wahl und die stete Einhaltung
des richtigen Vortrags-Tempos eine ungemein schwierige. Die meisten Men¬
schen sprechen zu schnell, und es bedarf großer Selbstbeherrschung, Uebung
und Aufmerksamkeit, bis man sich das richtige Tempo angewöhnt hat, was
aber Viele nie fertig bringen. Das bewährteste Urtheil in dieser Frage ist
das von hervorragenden Schauspielern; dieselben halten denjenigen Redner
für den besten, welcher durchschnittlich in zwei Sekunden drei Worte spricht,
was neunzig in der Minute ausmacht. Nahezu das höchste Maß mensch¬
licher Zungenfertigkeit hat Giskra erreicht, welcher es seiner Zeit im Frank¬
furter Parlament, zur Verzweiflung der Stenographen bis auf 170 Worte in
der Minute brachte!

Wenn durch die vorstehenden Ausführungen gelungen ist nachzuweisen,
daß bei manchen akademischen Lehrmethoden der Zuhörer eine viel zu passive,
lediglich receptive Rolle spielt -- was Jahrelang fortgesetzt, zu entschiedener
Verdummung und Ungeschicklichkeit führt -- und daß deshalb angestrebt wer¬
den muß, schon die gewöhnlichen Vorträge so einzurichten, daß der Zuhörer
zu einer gewissen Selbstthätigkeit veranlaßt werde, so hoffen wir, daß die
nachstehenden Vorschläge, welche eine noch höhere Selbstthätigkeit der Zu¬
hörer bezwecken, von den Fachmännern wenigstens einer Prüfung für werth
erachtet werden.

Man wird zunächst nicht in Abrede stellen können, daß die Rechts¬
hörer (wieder im Gegensatz zu den Medicinern) in der Regel führerlos
dem weiten Rechtsgebiete gegenüberstehen; abgesehen von den wenigen preußi¬
schen Universitäten, auf welchen sogenannte "Seminarien" bestehen, ist die
Thätigkeit des Professors gegenüber seinen Zuhörern mit dem Halten der
Vorlesung erschöpft, und erst nach Jahren (beim Examen) erfährt er, ob und
wie seine Zuhörer studirt haben. In der That stehen unsere Rechtsschulen
in der Intensität ihres Wirkens weit hinter der Rechtsschule der Glossatoren
in Bologna zurück. Wie uns Savigny im III. Bande seiner Geschichte des
Römischen Rechts ze. mittheilt, war die Lehrmethode dieser berühmten Lehrer
nicht allein auf die Quellen-Exegese beschränkt, sondern es wurden auch
l'LpciMionLS gehalten, eingehende Erörterungen der erklärten Stellen. Ferner
wurden die Nechtshörer veranlaßt, äisxuwtiomzs über vorgelegte "MttZstionW
praktische Fragen) zu halten, wobei von den sogenannten Scholaren opponire
wurde. Tüchtig zu disputiren und opponiren war da Ehrensache, es war


Wie schnell soll also der akademische Lehrer sprechen? Schon die Verhält¬
nisse des Raumes, in welchem man spricht, sind hier nicht zu übersehen: je
größer das Local, um so langsamer muß man reden, wofür die Er¬
klärung in bekannten physikalischen Gesetzen der Bewegung der Luftwellen
liegt. Abgesehen indessen von diesem Umstände, der zu manchen Modifika¬
tionen des Tempos Veranlassung giebt, ist die Wahl und die stete Einhaltung
des richtigen Vortrags-Tempos eine ungemein schwierige. Die meisten Men¬
schen sprechen zu schnell, und es bedarf großer Selbstbeherrschung, Uebung
und Aufmerksamkeit, bis man sich das richtige Tempo angewöhnt hat, was
aber Viele nie fertig bringen. Das bewährteste Urtheil in dieser Frage ist
das von hervorragenden Schauspielern; dieselben halten denjenigen Redner
für den besten, welcher durchschnittlich in zwei Sekunden drei Worte spricht,
was neunzig in der Minute ausmacht. Nahezu das höchste Maß mensch¬
licher Zungenfertigkeit hat Giskra erreicht, welcher es seiner Zeit im Frank¬
furter Parlament, zur Verzweiflung der Stenographen bis auf 170 Worte in
der Minute brachte!

Wenn durch die vorstehenden Ausführungen gelungen ist nachzuweisen,
daß bei manchen akademischen Lehrmethoden der Zuhörer eine viel zu passive,
lediglich receptive Rolle spielt — was Jahrelang fortgesetzt, zu entschiedener
Verdummung und Ungeschicklichkeit führt -- und daß deshalb angestrebt wer¬
den muß, schon die gewöhnlichen Vorträge so einzurichten, daß der Zuhörer
zu einer gewissen Selbstthätigkeit veranlaßt werde, so hoffen wir, daß die
nachstehenden Vorschläge, welche eine noch höhere Selbstthätigkeit der Zu¬
hörer bezwecken, von den Fachmännern wenigstens einer Prüfung für werth
erachtet werden.

Man wird zunächst nicht in Abrede stellen können, daß die Rechts¬
hörer (wieder im Gegensatz zu den Medicinern) in der Regel führerlos
dem weiten Rechtsgebiete gegenüberstehen; abgesehen von den wenigen preußi¬
schen Universitäten, auf welchen sogenannte „Seminarien" bestehen, ist die
Thätigkeit des Professors gegenüber seinen Zuhörern mit dem Halten der
Vorlesung erschöpft, und erst nach Jahren (beim Examen) erfährt er, ob und
wie seine Zuhörer studirt haben. In der That stehen unsere Rechtsschulen
in der Intensität ihres Wirkens weit hinter der Rechtsschule der Glossatoren
in Bologna zurück. Wie uns Savigny im III. Bande seiner Geschichte des
Römischen Rechts ze. mittheilt, war die Lehrmethode dieser berühmten Lehrer
nicht allein auf die Quellen-Exegese beschränkt, sondern es wurden auch
l'LpciMionLS gehalten, eingehende Erörterungen der erklärten Stellen. Ferner
wurden die Nechtshörer veranlaßt, äisxuwtiomzs über vorgelegte «MttZstionW
praktische Fragen) zu halten, wobei von den sogenannten Scholaren opponire
wurde. Tüchtig zu disputiren und opponiren war da Ehrensache, es war


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[0214] Wie schnell soll also der akademische Lehrer sprechen? Schon die Verhält¬ nisse des Raumes, in welchem man spricht, sind hier nicht zu übersehen: je größer das Local, um so langsamer muß man reden, wofür die Er¬ klärung in bekannten physikalischen Gesetzen der Bewegung der Luftwellen liegt. Abgesehen indessen von diesem Umstände, der zu manchen Modifika¬ tionen des Tempos Veranlassung giebt, ist die Wahl und die stete Einhaltung des richtigen Vortrags-Tempos eine ungemein schwierige. Die meisten Men¬ schen sprechen zu schnell, und es bedarf großer Selbstbeherrschung, Uebung und Aufmerksamkeit, bis man sich das richtige Tempo angewöhnt hat, was aber Viele nie fertig bringen. Das bewährteste Urtheil in dieser Frage ist das von hervorragenden Schauspielern; dieselben halten denjenigen Redner für den besten, welcher durchschnittlich in zwei Sekunden drei Worte spricht, was neunzig in der Minute ausmacht. Nahezu das höchste Maß mensch¬ licher Zungenfertigkeit hat Giskra erreicht, welcher es seiner Zeit im Frank¬ furter Parlament, zur Verzweiflung der Stenographen bis auf 170 Worte in der Minute brachte! Wenn durch die vorstehenden Ausführungen gelungen ist nachzuweisen, daß bei manchen akademischen Lehrmethoden der Zuhörer eine viel zu passive, lediglich receptive Rolle spielt — was Jahrelang fortgesetzt, zu entschiedener Verdummung und Ungeschicklichkeit führt -- und daß deshalb angestrebt wer¬ den muß, schon die gewöhnlichen Vorträge so einzurichten, daß der Zuhörer zu einer gewissen Selbstthätigkeit veranlaßt werde, so hoffen wir, daß die nachstehenden Vorschläge, welche eine noch höhere Selbstthätigkeit der Zu¬ hörer bezwecken, von den Fachmännern wenigstens einer Prüfung für werth erachtet werden. Man wird zunächst nicht in Abrede stellen können, daß die Rechts¬ hörer (wieder im Gegensatz zu den Medicinern) in der Regel führerlos dem weiten Rechtsgebiete gegenüberstehen; abgesehen von den wenigen preußi¬ schen Universitäten, auf welchen sogenannte „Seminarien" bestehen, ist die Thätigkeit des Professors gegenüber seinen Zuhörern mit dem Halten der Vorlesung erschöpft, und erst nach Jahren (beim Examen) erfährt er, ob und wie seine Zuhörer studirt haben. In der That stehen unsere Rechtsschulen in der Intensität ihres Wirkens weit hinter der Rechtsschule der Glossatoren in Bologna zurück. Wie uns Savigny im III. Bande seiner Geschichte des Römischen Rechts ze. mittheilt, war die Lehrmethode dieser berühmten Lehrer nicht allein auf die Quellen-Exegese beschränkt, sondern es wurden auch l'LpciMionLS gehalten, eingehende Erörterungen der erklärten Stellen. Ferner wurden die Nechtshörer veranlaßt, äisxuwtiomzs über vorgelegte «MttZstionW praktische Fragen) zu halten, wobei von den sogenannten Scholaren opponire wurde. Tüchtig zu disputiren und opponiren war da Ehrensache, es war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/214>, abgerufen am 22.07.2024.