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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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tragsclasse zu besprechen: der freie Vortrag unter Nücksichinahme auf die
Möglichkeit demselben in Kurrentschrift (nicht stenographisch) zu folgen.

Wir halten diese Art des Vertrags für die meisten juristischen Collegia
als die weitaus geeignetste, wenn sie auch für den Lehrer am schwierigsten
zu erlernen ist. Meister in dieser Methode war Vangerow, und es
entspricht wohl dem hohen Interesse des hier behandelten Gegenstandes, wenn
sich' einer der dankbaren Schüler dieses großen Rechtslehrers erlaubt, dessen
Lehrmethode im Näheren darzustellen. Schon das langsamere oder schnellere
Tempo des Vortrags des Genannten wies den Zuhörer gleich in der ersten
Stunde darauf hin, was aufzuzeichnen wünschenswert!) war, was nicht. Da
nun aber auch die flüchtigste Current-Schrift einem nur einmal, wenn
auch langsamer, gesprochenen Satze nicht nachkommt, so mußte der Inhalt
des letzteren noch einmal gesagt werden, jedoch selbstverständlich mit anderen
Ausdrücken, in verschiedener Redewendung. Bei Begriffs-Bestimmungen wurde
der Inhalt derselben oft dreimal gegeben, aber eben immer in anderer Form,
was freilich bei dem Lehrer eine eminente Sprach-Gewandtheit voraussetzt,
aber den großen Vortheil hat, daß schon vor einer eingehenden Erplanativn
die Begriffe immer klarer und lichtvoller hervortreten. Der unschätzbare Vor¬
theil dieser Lehrmethode war aber der, daß sie den Zuhörer nöthigte, wäh¬
rend des Vortrags selbstthätig zu sein. Weil sich nämlich Vangerow
nicht an das Wort heftete, so mußte der Zuhörer den in mehrfachen Wen¬
dungen vernommenen Sinn selbst redigiren, er mußte also reeipirt, nachge¬
dacht und begriffen haben, ehe er zur Formulirung des Gehörten schreiten
konnte. Dieß war nun: Denken mit dem Lehrer, sofortiges Verständniß, und
die Fähigkeit, nach beendigter Vorlesung das, was vorgekommen, mit Leichtig¬
keit wiederzugeben. Jener Vorführung und Erplanativn der Begriffe folgte
dann die Analyse derselben nebst Angabe der Consequenzen, alles dies be¬
gleitet von einer Fülle von Beispielen, während deren Vortrag es sogar leicht war,
alles der Aufzeichnung Werthe zu Papier zu bringen. Sehr häusig wurde
auch in den Bortrag des Textes die Interpretation von Quellenstellen einge¬
flochten, oder andere Ansichten angeführt und geprüft, so daß uach beendigtem
Collegium dem Geiste des Zuhörers ein ebenso klares, wie lebensvolles Bild
des behandelten Gegenstandes eingeprägt war.

Dennoch aber unterlagen selbst Vangerow's ausgezeichnete Vorträge
einer, wie uns scheint, begründeten Aussetzung. Vangerow las nach dem in
Paragraphen, gebrachten Systeme seines Lehrbuchs der Pandekten. Bekanntlich
beschäftigt sich dasselbe vorwiegend mit Ausführungen über interessante Detail¬
fragen, während die Begriffsbestimmungen, serner das in den Pandekten-Lehr-
büchern sonst vorgeführte allgemeinere Material über die betreffenden Lehren,
dem mündlichen Vortrage vorbehalten wurde. Nun ist es wirklich nicht


tragsclasse zu besprechen: der freie Vortrag unter Nücksichinahme auf die
Möglichkeit demselben in Kurrentschrift (nicht stenographisch) zu folgen.

Wir halten diese Art des Vertrags für die meisten juristischen Collegia
als die weitaus geeignetste, wenn sie auch für den Lehrer am schwierigsten
zu erlernen ist. Meister in dieser Methode war Vangerow, und es
entspricht wohl dem hohen Interesse des hier behandelten Gegenstandes, wenn
sich' einer der dankbaren Schüler dieses großen Rechtslehrers erlaubt, dessen
Lehrmethode im Näheren darzustellen. Schon das langsamere oder schnellere
Tempo des Vortrags des Genannten wies den Zuhörer gleich in der ersten
Stunde darauf hin, was aufzuzeichnen wünschenswert!) war, was nicht. Da
nun aber auch die flüchtigste Current-Schrift einem nur einmal, wenn
auch langsamer, gesprochenen Satze nicht nachkommt, so mußte der Inhalt
des letzteren noch einmal gesagt werden, jedoch selbstverständlich mit anderen
Ausdrücken, in verschiedener Redewendung. Bei Begriffs-Bestimmungen wurde
der Inhalt derselben oft dreimal gegeben, aber eben immer in anderer Form,
was freilich bei dem Lehrer eine eminente Sprach-Gewandtheit voraussetzt,
aber den großen Vortheil hat, daß schon vor einer eingehenden Erplanativn
die Begriffe immer klarer und lichtvoller hervortreten. Der unschätzbare Vor¬
theil dieser Lehrmethode war aber der, daß sie den Zuhörer nöthigte, wäh¬
rend des Vortrags selbstthätig zu sein. Weil sich nämlich Vangerow
nicht an das Wort heftete, so mußte der Zuhörer den in mehrfachen Wen¬
dungen vernommenen Sinn selbst redigiren, er mußte also reeipirt, nachge¬
dacht und begriffen haben, ehe er zur Formulirung des Gehörten schreiten
konnte. Dieß war nun: Denken mit dem Lehrer, sofortiges Verständniß, und
die Fähigkeit, nach beendigter Vorlesung das, was vorgekommen, mit Leichtig¬
keit wiederzugeben. Jener Vorführung und Erplanativn der Begriffe folgte
dann die Analyse derselben nebst Angabe der Consequenzen, alles dies be¬
gleitet von einer Fülle von Beispielen, während deren Vortrag es sogar leicht war,
alles der Aufzeichnung Werthe zu Papier zu bringen. Sehr häusig wurde
auch in den Bortrag des Textes die Interpretation von Quellenstellen einge¬
flochten, oder andere Ansichten angeführt und geprüft, so daß uach beendigtem
Collegium dem Geiste des Zuhörers ein ebenso klares, wie lebensvolles Bild
des behandelten Gegenstandes eingeprägt war.

Dennoch aber unterlagen selbst Vangerow's ausgezeichnete Vorträge
einer, wie uns scheint, begründeten Aussetzung. Vangerow las nach dem in
Paragraphen, gebrachten Systeme seines Lehrbuchs der Pandekten. Bekanntlich
beschäftigt sich dasselbe vorwiegend mit Ausführungen über interessante Detail¬
fragen, während die Begriffsbestimmungen, serner das in den Pandekten-Lehr-
büchern sonst vorgeführte allgemeinere Material über die betreffenden Lehren,
dem mündlichen Vortrage vorbehalten wurde. Nun ist es wirklich nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/212>, abgerufen am 22.07.2024.