Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeitverlustes, denn während der Borlesung lernt der Student nichts -- einer
vollständigen Nutzlosigkeit der Aufzeichnungen, und was das Schlimmste ist,
einer völligen Nichterreichung des eigentlichen Lehrzweckes, das heißt, augen¬
blicklich Verständniß und Interesse am Lehrgegenstand zu erzeugen. Man
könnte in der That jede Wette eingehen, daß ein Student, welcher aus einem
ganz oder theilweise dictirenden Vortrage kommt, kaum im Allgemeinen weiß,
wovon in solcher Vorlesung die Rede war, geschweige denn, daß er im Stande
wäre, das Vorgetragene frei zu reproduciren, was unseres Erachtens die ein¬
zige, aber untrügliche Probe eines zweckerfüllenden akademischen Vortrags ist.

Eine dritte Art akademischer Norträge ist die der Vorlesung im
eigentlichen Sinne, das heißt der Professor spricht weder frei, noch nimmt er
auf etwaiges Nachschreiben Rücksicht, sondern er liest eben die Lehrstunde hin¬
durch sein Heft vor. Daß diese Methode didaktisch, das heißt gegenüber
Solchen, die erst noch lernen und begreifen sollen, keinen Werth hat, liegt
auf der Hand, da es an allen Erklärungen und Verdeutlichungen fehlt und
fehlen muß. Denn diese schreibt doch Niemand auf. Für Anfänger und
Neulinge im Lehrgegenstand paßt daher diese Methode nicht. Sie bietet aber
auf der andern Seite wieder viel zu viel Stoss, welchen der Tirone in sein
Begriffs-Vermögen sehr bald nicht mehr zu sammeln vermag. Sind dagegen,
die Zuhörer mit dem Lehrgegenstand schon bekannt, dann könnte die "Vor¬
lesung" wissenschaftlich allerdings von Nutzen sein durch die Güte des Ge¬
gebenen. Sie würde dann entschieden anregend auf die Zuhörer wirken.
Aber auch dann dürfte sie nur auf historische Lehrgegenstände anwendbar er¬
scheinen; denn daß weder Pandekten, noch Civilprozeß, noch Strafrecht ?c.
in dieser Weise vorgetragen werden können, bedarf wohl keiner näheren Aus¬
führung.

Wir wenden uns nun zu der vierten und letzten Art akademischer
Vorträge, zu den sogenannten "freien Vorträgen/' das heißt solchen, wobei
jedenfalls nicht dictirt und auch nicht abgelesen wird. Dieselben lassen sich
wieder in solche eintheilen, wobei keinerlei Rücksicht auf eine von den Zu¬
hörern etwa vorzunehmende Aufzeichnung des Vorgetragenen genommen wird,
und solche, bei welchen letzteres allerdings der Fall ist. Ungeeignet wäre
jene erstere Unterart für Vorlesungen über Pandekten, Straf-, Staats-Necht,
welche Lehrgegenstände eine solche cursorische Behandlung nicht leiden, dagegen
ließe sich gegen deren Anwendung bei referirenden und raisonnirenden Vor¬
trägen, wie namentlich den geschichtlichen, im Allgemeinen nichts einwenden,
obwohl wir eine gewisse Rücksichtnahme auf die Möglichkeit vou Aufzeich¬
nungen für einen didaktischen Griff halten, die Aufmerksamkeit der Zuhörer
mehr zu fesseln.

Sonach ist nur noch jene z w eile Unterart der hier aufgeführten Vor-


Zeitverlustes, denn während der Borlesung lernt der Student nichts — einer
vollständigen Nutzlosigkeit der Aufzeichnungen, und was das Schlimmste ist,
einer völligen Nichterreichung des eigentlichen Lehrzweckes, das heißt, augen¬
blicklich Verständniß und Interesse am Lehrgegenstand zu erzeugen. Man
könnte in der That jede Wette eingehen, daß ein Student, welcher aus einem
ganz oder theilweise dictirenden Vortrage kommt, kaum im Allgemeinen weiß,
wovon in solcher Vorlesung die Rede war, geschweige denn, daß er im Stande
wäre, das Vorgetragene frei zu reproduciren, was unseres Erachtens die ein¬
zige, aber untrügliche Probe eines zweckerfüllenden akademischen Vortrags ist.

Eine dritte Art akademischer Norträge ist die der Vorlesung im
eigentlichen Sinne, das heißt der Professor spricht weder frei, noch nimmt er
auf etwaiges Nachschreiben Rücksicht, sondern er liest eben die Lehrstunde hin¬
durch sein Heft vor. Daß diese Methode didaktisch, das heißt gegenüber
Solchen, die erst noch lernen und begreifen sollen, keinen Werth hat, liegt
auf der Hand, da es an allen Erklärungen und Verdeutlichungen fehlt und
fehlen muß. Denn diese schreibt doch Niemand auf. Für Anfänger und
Neulinge im Lehrgegenstand paßt daher diese Methode nicht. Sie bietet aber
auf der andern Seite wieder viel zu viel Stoss, welchen der Tirone in sein
Begriffs-Vermögen sehr bald nicht mehr zu sammeln vermag. Sind dagegen,
die Zuhörer mit dem Lehrgegenstand schon bekannt, dann könnte die „Vor¬
lesung" wissenschaftlich allerdings von Nutzen sein durch die Güte des Ge¬
gebenen. Sie würde dann entschieden anregend auf die Zuhörer wirken.
Aber auch dann dürfte sie nur auf historische Lehrgegenstände anwendbar er¬
scheinen; denn daß weder Pandekten, noch Civilprozeß, noch Strafrecht ?c.
in dieser Weise vorgetragen werden können, bedarf wohl keiner näheren Aus¬
führung.

Wir wenden uns nun zu der vierten und letzten Art akademischer
Vorträge, zu den sogenannten „freien Vorträgen/' das heißt solchen, wobei
jedenfalls nicht dictirt und auch nicht abgelesen wird. Dieselben lassen sich
wieder in solche eintheilen, wobei keinerlei Rücksicht auf eine von den Zu¬
hörern etwa vorzunehmende Aufzeichnung des Vorgetragenen genommen wird,
und solche, bei welchen letzteres allerdings der Fall ist. Ungeeignet wäre
jene erstere Unterart für Vorlesungen über Pandekten, Straf-, Staats-Necht,
welche Lehrgegenstände eine solche cursorische Behandlung nicht leiden, dagegen
ließe sich gegen deren Anwendung bei referirenden und raisonnirenden Vor¬
trägen, wie namentlich den geschichtlichen, im Allgemeinen nichts einwenden,
obwohl wir eine gewisse Rücksichtnahme auf die Möglichkeit vou Aufzeich¬
nungen für einen didaktischen Griff halten, die Aufmerksamkeit der Zuhörer
mehr zu fesseln.

Sonach ist nur noch jene z w eile Unterart der hier aufgeführten Vor-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127639"/>
          <p xml:id="ID_696" prev="#ID_695"> Zeitverlustes, denn während der Borlesung lernt der Student nichts &#x2014; einer<lb/>
vollständigen Nutzlosigkeit der Aufzeichnungen, und was das Schlimmste ist,<lb/>
einer völligen Nichterreichung des eigentlichen Lehrzweckes, das heißt, augen¬<lb/>
blicklich Verständniß und Interesse am Lehrgegenstand zu erzeugen. Man<lb/>
könnte in der That jede Wette eingehen, daß ein Student, welcher aus einem<lb/>
ganz oder theilweise dictirenden Vortrage kommt, kaum im Allgemeinen weiß,<lb/>
wovon in solcher Vorlesung die Rede war, geschweige denn, daß er im Stande<lb/>
wäre, das Vorgetragene frei zu reproduciren, was unseres Erachtens die ein¬<lb/>
zige, aber untrügliche Probe eines zweckerfüllenden akademischen Vortrags ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_697"> Eine dritte Art akademischer Norträge ist die der Vorlesung im<lb/>
eigentlichen Sinne, das heißt der Professor spricht weder frei, noch nimmt er<lb/>
auf etwaiges Nachschreiben Rücksicht, sondern er liest eben die Lehrstunde hin¬<lb/>
durch sein Heft vor. Daß diese Methode didaktisch, das heißt gegenüber<lb/>
Solchen, die erst noch lernen und begreifen sollen, keinen Werth hat, liegt<lb/>
auf der Hand, da es an allen Erklärungen und Verdeutlichungen fehlt und<lb/>
fehlen muß. Denn diese schreibt doch Niemand auf. Für Anfänger und<lb/>
Neulinge im Lehrgegenstand paßt daher diese Methode nicht. Sie bietet aber<lb/>
auf der andern Seite wieder viel zu viel Stoss, welchen der Tirone in sein<lb/>
Begriffs-Vermögen sehr bald nicht mehr zu sammeln vermag. Sind dagegen,<lb/>
die Zuhörer mit dem Lehrgegenstand schon bekannt, dann könnte die &#x201E;Vor¬<lb/>
lesung" wissenschaftlich allerdings von Nutzen sein durch die Güte des Ge¬<lb/>
gebenen. Sie würde dann entschieden anregend auf die Zuhörer wirken.<lb/>
Aber auch dann dürfte sie nur auf historische Lehrgegenstände anwendbar er¬<lb/>
scheinen; denn daß weder Pandekten, noch Civilprozeß, noch Strafrecht ?c.<lb/>
in dieser Weise vorgetragen werden können, bedarf wohl keiner näheren Aus¬<lb/>
führung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_698"> Wir wenden uns nun zu der vierten und letzten Art akademischer<lb/>
Vorträge, zu den sogenannten &#x201E;freien Vorträgen/' das heißt solchen, wobei<lb/>
jedenfalls nicht dictirt und auch nicht abgelesen wird. Dieselben lassen sich<lb/>
wieder in solche eintheilen, wobei keinerlei Rücksicht auf eine von den Zu¬<lb/>
hörern etwa vorzunehmende Aufzeichnung des Vorgetragenen genommen wird,<lb/>
und solche, bei welchen letzteres allerdings der Fall ist. Ungeeignet wäre<lb/>
jene erstere Unterart für Vorlesungen über Pandekten, Straf-, Staats-Necht,<lb/>
welche Lehrgegenstände eine solche cursorische Behandlung nicht leiden, dagegen<lb/>
ließe sich gegen deren Anwendung bei referirenden und raisonnirenden Vor¬<lb/>
trägen, wie namentlich den geschichtlichen, im Allgemeinen nichts einwenden,<lb/>
obwohl wir eine gewisse Rücksichtnahme auf die Möglichkeit vou Aufzeich¬<lb/>
nungen für einen didaktischen Griff halten, die Aufmerksamkeit der Zuhörer<lb/>
mehr zu fesseln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_699" next="#ID_700"> Sonach ist nur noch jene z w eile Unterart der hier aufgeführten Vor-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0211] Zeitverlustes, denn während der Borlesung lernt der Student nichts — einer vollständigen Nutzlosigkeit der Aufzeichnungen, und was das Schlimmste ist, einer völligen Nichterreichung des eigentlichen Lehrzweckes, das heißt, augen¬ blicklich Verständniß und Interesse am Lehrgegenstand zu erzeugen. Man könnte in der That jede Wette eingehen, daß ein Student, welcher aus einem ganz oder theilweise dictirenden Vortrage kommt, kaum im Allgemeinen weiß, wovon in solcher Vorlesung die Rede war, geschweige denn, daß er im Stande wäre, das Vorgetragene frei zu reproduciren, was unseres Erachtens die ein¬ zige, aber untrügliche Probe eines zweckerfüllenden akademischen Vortrags ist. Eine dritte Art akademischer Norträge ist die der Vorlesung im eigentlichen Sinne, das heißt der Professor spricht weder frei, noch nimmt er auf etwaiges Nachschreiben Rücksicht, sondern er liest eben die Lehrstunde hin¬ durch sein Heft vor. Daß diese Methode didaktisch, das heißt gegenüber Solchen, die erst noch lernen und begreifen sollen, keinen Werth hat, liegt auf der Hand, da es an allen Erklärungen und Verdeutlichungen fehlt und fehlen muß. Denn diese schreibt doch Niemand auf. Für Anfänger und Neulinge im Lehrgegenstand paßt daher diese Methode nicht. Sie bietet aber auf der andern Seite wieder viel zu viel Stoss, welchen der Tirone in sein Begriffs-Vermögen sehr bald nicht mehr zu sammeln vermag. Sind dagegen, die Zuhörer mit dem Lehrgegenstand schon bekannt, dann könnte die „Vor¬ lesung" wissenschaftlich allerdings von Nutzen sein durch die Güte des Ge¬ gebenen. Sie würde dann entschieden anregend auf die Zuhörer wirken. Aber auch dann dürfte sie nur auf historische Lehrgegenstände anwendbar er¬ scheinen; denn daß weder Pandekten, noch Civilprozeß, noch Strafrecht ?c. in dieser Weise vorgetragen werden können, bedarf wohl keiner näheren Aus¬ führung. Wir wenden uns nun zu der vierten und letzten Art akademischer Vorträge, zu den sogenannten „freien Vorträgen/' das heißt solchen, wobei jedenfalls nicht dictirt und auch nicht abgelesen wird. Dieselben lassen sich wieder in solche eintheilen, wobei keinerlei Rücksicht auf eine von den Zu¬ hörern etwa vorzunehmende Aufzeichnung des Vorgetragenen genommen wird, und solche, bei welchen letzteres allerdings der Fall ist. Ungeeignet wäre jene erstere Unterart für Vorlesungen über Pandekten, Straf-, Staats-Necht, welche Lehrgegenstände eine solche cursorische Behandlung nicht leiden, dagegen ließe sich gegen deren Anwendung bei referirenden und raisonnirenden Vor¬ trägen, wie namentlich den geschichtlichen, im Allgemeinen nichts einwenden, obwohl wir eine gewisse Rücksichtnahme auf die Möglichkeit vou Aufzeich¬ nungen für einen didaktischen Griff halten, die Aufmerksamkeit der Zuhörer mehr zu fesseln. Sonach ist nur noch jene z w eile Unterart der hier aufgeführten Vor-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/211
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/211>, abgerufen am 22.07.2024.