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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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gen. Ein sogenanntes neues Volksschulgesetz, welches Minister von Falken¬
stein vorlegte, welches aber (abgesehen von einer dankenswerthen Erhöhung
der Lehrergehalte) nur Stück- und Flickwerk enthielt, ward von der zweiten
Kammer mit Protest zurückgewiesen, und ein vollständigeres, den Zeitan¬
forderungen besser entsprechendes Schulgesetz verlangt. Zu einer durchgreifen¬
den Reform der Gemeindeverfassung und der Staatsverwaltung, von der wohl
lange die Rede gewesen, aber mit der niemals recht Ernst gemacht worden
war, ward ein kräftiger Anlauf genommen durch Anträge aus der Mitte der
Linken (Streit und Genossen, Biedermann und Genossen). Diese Anträge
enthielten theils allgemeine Grundzüge, theils auch schon detaillirte Vorschläge
zu den verlangten Reformen. Der Minister des Innern, Herr von Nostiz-
Wallwitz, ein kluger, den Forderungen der Zeit sich nicht verschließender Mann,
schien anfangs sich fast ablehnend, zum Mindesten ziemlich kühl gegen diese
Anträge zu verhalten, aber schließlich sagte er doch deren Berücksichtigung zu.
Und er hat Wort gehalten -- Zeuge dessen die umfänglichen Vorlagen wegen
Reform der Gemeindeordnungen -- mit ihren mehr als 200 Paragraphen --
die Entwürfe einer Behördenorganisation, eines Gesetzes über Bildung von
Bezirksvertretungen, eines Gesetzes über die Polizeistrasgerichtsbarkeit. Auch
Herr von Falkenstein hatte, obschon damals wohl bereits ziemlich entschlossen,
nicht mehr vor dem nächsten Landtage als Träger des Cultusportefeuilles zu
erscheinen, doch noch vor seinem Ausscheiden einen Schulgesetzentwurf vorbereitet,
den im Wesentlichen nun sein Nachfolger, Herr von Gerber, zu dem seinigen
gemacht und den Kammern vorgelegt hat.

So sah die liberale Partei beim jetzigen Landtage den Saamen, den sie
beim vorigen ausgestreut, in Halmen und Frucht gewachsen. Es kam nun
darauf an, glücklich zu ernten, was sie gesäet. Ihre Aufgabe war insoweit
sachlich dankbarer, und, wenn die Lösung gelang, für das Land unmittelbar
erfolgverheißend. Sie war aber doch in manchem Betracht schwieriger und
bot für den oberflächlichen Beobachter weniger Interesse als die Arbeit des
vorigen Landtags. Denn damals, 1869/70, konnten die Liberalen mit vollen
Segeln auf's hohe Meer der Wünsche, selbst der Ideale hinausfahren. Es
ging ja doch nur um Anträge, um Forderungen, und ein alter Spruch sagt:
Man muß viel fordern, um etwas zu erhalten. Jetzt galt es, das mit Frucht
beladene Schiff durch allerhand Klippen, an denen es noch scheitern konnte,
geschickt in den bergenden Hafen zu lootsen, und die ersehnte Ladung in die
sichern Speicher einzuheimsen. Dazu bedürfte es kluger Mäßigung und festen
Zusammenhaltens. Da mußte aus manchen, noch so berechtigtenFLunsch ver¬
zichtet werden, um einen andern, noch wichtigeren, nicht zu gefährden; da
war mit einem Worte Realpolitik, nicht blos Jdealpolitik geboten.


gen. Ein sogenanntes neues Volksschulgesetz, welches Minister von Falken¬
stein vorlegte, welches aber (abgesehen von einer dankenswerthen Erhöhung
der Lehrergehalte) nur Stück- und Flickwerk enthielt, ward von der zweiten
Kammer mit Protest zurückgewiesen, und ein vollständigeres, den Zeitan¬
forderungen besser entsprechendes Schulgesetz verlangt. Zu einer durchgreifen¬
den Reform der Gemeindeverfassung und der Staatsverwaltung, von der wohl
lange die Rede gewesen, aber mit der niemals recht Ernst gemacht worden
war, ward ein kräftiger Anlauf genommen durch Anträge aus der Mitte der
Linken (Streit und Genossen, Biedermann und Genossen). Diese Anträge
enthielten theils allgemeine Grundzüge, theils auch schon detaillirte Vorschläge
zu den verlangten Reformen. Der Minister des Innern, Herr von Nostiz-
Wallwitz, ein kluger, den Forderungen der Zeit sich nicht verschließender Mann,
schien anfangs sich fast ablehnend, zum Mindesten ziemlich kühl gegen diese
Anträge zu verhalten, aber schließlich sagte er doch deren Berücksichtigung zu.
Und er hat Wort gehalten — Zeuge dessen die umfänglichen Vorlagen wegen
Reform der Gemeindeordnungen — mit ihren mehr als 200 Paragraphen —
die Entwürfe einer Behördenorganisation, eines Gesetzes über Bildung von
Bezirksvertretungen, eines Gesetzes über die Polizeistrasgerichtsbarkeit. Auch
Herr von Falkenstein hatte, obschon damals wohl bereits ziemlich entschlossen,
nicht mehr vor dem nächsten Landtage als Träger des Cultusportefeuilles zu
erscheinen, doch noch vor seinem Ausscheiden einen Schulgesetzentwurf vorbereitet,
den im Wesentlichen nun sein Nachfolger, Herr von Gerber, zu dem seinigen
gemacht und den Kammern vorgelegt hat.

So sah die liberale Partei beim jetzigen Landtage den Saamen, den sie
beim vorigen ausgestreut, in Halmen und Frucht gewachsen. Es kam nun
darauf an, glücklich zu ernten, was sie gesäet. Ihre Aufgabe war insoweit
sachlich dankbarer, und, wenn die Lösung gelang, für das Land unmittelbar
erfolgverheißend. Sie war aber doch in manchem Betracht schwieriger und
bot für den oberflächlichen Beobachter weniger Interesse als die Arbeit des
vorigen Landtags. Denn damals, 1869/70, konnten die Liberalen mit vollen
Segeln auf's hohe Meer der Wünsche, selbst der Ideale hinausfahren. Es
ging ja doch nur um Anträge, um Forderungen, und ein alter Spruch sagt:
Man muß viel fordern, um etwas zu erhalten. Jetzt galt es, das mit Frucht
beladene Schiff durch allerhand Klippen, an denen es noch scheitern konnte,
geschickt in den bergenden Hafen zu lootsen, und die ersehnte Ladung in die
sichern Speicher einzuheimsen. Dazu bedürfte es kluger Mäßigung und festen
Zusammenhaltens. Da mußte aus manchen, noch so berechtigtenFLunsch ver¬
zichtet werden, um einen andern, noch wichtigeren, nicht zu gefährden; da
war mit einem Worte Realpolitik, nicht blos Jdealpolitik geboten.


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[0160] gen. Ein sogenanntes neues Volksschulgesetz, welches Minister von Falken¬ stein vorlegte, welches aber (abgesehen von einer dankenswerthen Erhöhung der Lehrergehalte) nur Stück- und Flickwerk enthielt, ward von der zweiten Kammer mit Protest zurückgewiesen, und ein vollständigeres, den Zeitan¬ forderungen besser entsprechendes Schulgesetz verlangt. Zu einer durchgreifen¬ den Reform der Gemeindeverfassung und der Staatsverwaltung, von der wohl lange die Rede gewesen, aber mit der niemals recht Ernst gemacht worden war, ward ein kräftiger Anlauf genommen durch Anträge aus der Mitte der Linken (Streit und Genossen, Biedermann und Genossen). Diese Anträge enthielten theils allgemeine Grundzüge, theils auch schon detaillirte Vorschläge zu den verlangten Reformen. Der Minister des Innern, Herr von Nostiz- Wallwitz, ein kluger, den Forderungen der Zeit sich nicht verschließender Mann, schien anfangs sich fast ablehnend, zum Mindesten ziemlich kühl gegen diese Anträge zu verhalten, aber schließlich sagte er doch deren Berücksichtigung zu. Und er hat Wort gehalten — Zeuge dessen die umfänglichen Vorlagen wegen Reform der Gemeindeordnungen — mit ihren mehr als 200 Paragraphen — die Entwürfe einer Behördenorganisation, eines Gesetzes über Bildung von Bezirksvertretungen, eines Gesetzes über die Polizeistrasgerichtsbarkeit. Auch Herr von Falkenstein hatte, obschon damals wohl bereits ziemlich entschlossen, nicht mehr vor dem nächsten Landtage als Träger des Cultusportefeuilles zu erscheinen, doch noch vor seinem Ausscheiden einen Schulgesetzentwurf vorbereitet, den im Wesentlichen nun sein Nachfolger, Herr von Gerber, zu dem seinigen gemacht und den Kammern vorgelegt hat. So sah die liberale Partei beim jetzigen Landtage den Saamen, den sie beim vorigen ausgestreut, in Halmen und Frucht gewachsen. Es kam nun darauf an, glücklich zu ernten, was sie gesäet. Ihre Aufgabe war insoweit sachlich dankbarer, und, wenn die Lösung gelang, für das Land unmittelbar erfolgverheißend. Sie war aber doch in manchem Betracht schwieriger und bot für den oberflächlichen Beobachter weniger Interesse als die Arbeit des vorigen Landtags. Denn damals, 1869/70, konnten die Liberalen mit vollen Segeln auf's hohe Meer der Wünsche, selbst der Ideale hinausfahren. Es ging ja doch nur um Anträge, um Forderungen, und ein alter Spruch sagt: Man muß viel fordern, um etwas zu erhalten. Jetzt galt es, das mit Frucht beladene Schiff durch allerhand Klippen, an denen es noch scheitern konnte, geschickt in den bergenden Hafen zu lootsen, und die ersehnte Ladung in die sichern Speicher einzuheimsen. Dazu bedürfte es kluger Mäßigung und festen Zusammenhaltens. Da mußte aus manchen, noch so berechtigtenFLunsch ver¬ zichtet werden, um einen andern, noch wichtigeren, nicht zu gefährden; da war mit einem Worte Realpolitik, nicht blos Jdealpolitik geboten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/160>, abgerufen am 24.08.2024.