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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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geordnetenhaus hat die Auswahl unter den Grundbesitzern und Amtsvorstehern
ohne Unterschied freigegeben.

Schon die ältere Kreisverfassung hatte dem Landrath ein repräsentatives
Organ in dem Kreistag zur Seite gestellt. Diese Verfassung, die gegenwä-lig
noch in Kraft ist, beruht auf provinziellen Kreisordnungen, welche in den
Jahren 1826 bis 1828 erlassen wurden. Es hat sich bei der Ausarbeitung
dieser Kreisordnungen, wie man weiß, der Einfluß des damaligen Kronprin¬
zen, nachherigen Königs Friedrich Wilhelm IV. in eingreifender Weise geltend
gemacht. Der ganze Sinn dieses Fürsten ging auf Hervorziehung und Wie¬
derbelebung mittelalterlicher Reliquien, historischer oder eingebildeter, ohne
Rücksicht auf die leistenden und leistungsfähigen Kräfte der lebendigen Gesell¬
schaft. So wurden denn die Kreistage zusammengesetzt aus den Inhabern
solcher Güter, welche aus mittelalterlicher Erinnerung den Namen Rittergüter
trugen, obwohl solche Güter längst wie alle andern käuflich waren, obwohl
der Erbadel längst aufgehört hatte, eine Bedingung des Erwerbs zu sein.
Man erinnert sich der ärgerlichen Streitigkeiten, welche bisweilen vorkamen,
wenn Juden Besitzer von Rittergütern geworden waren und von den Mitgliedern
der Kreistage nicht zugelassen werden sollten, während doch die Verfassung
die Staatsämter ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses den Bürgern
zugänglich gemacht hatte. Wurde doch einmal durch den Abgeordneten von
Blankenburg erklärt, er wolle mit einem Juden in einem Bett schlafen, aber
nicht ihn auf den Kreistag zulassen. -- Zu den Besitzern der ehemaligen
Rittergüter traten auf den bisherigen Kreistagen eine kleine Anzahl städtischer
Abgeordneten und drei, sage drei Abgeordnete des bäuerlichen Standes, erst
später hier und da vermehrt. Die städtischen Abgeordneten mußten in der
Regel Magistratspersonen sein, die der Landgemeinden Schulzen. Einige
Städte hatten besondere oder sogenannte Vinlstimmen. Die anderen wählten
Collectivabgeordnete. In manchen Kreisen gab es große Gütercomvlexe, die
weil sie nicht aus ehemals ritterschaftlichen Grundbesitz bestanden, ihrem Be¬
sitzer gar keine Vertretung auf dem Kreistag verschafften, während jeder Ritter¬
gutsbesitzer daselbst seine Stimme besaß, auch wenn sein Gut vielleicht an
materiellem Werth bis zur Unbedeutendheit eingebüßt hatte. Diese Zusammen¬
setzung der Kreistage war es, gegen welche, namentlich seitdem den Kreistagen
in den Jahren 1841 bis 1846 ein Besteuerungsrecht beigelegt worden, der
Widerspruch sich immer lauter erhob. Die gegenwärtige Regierungsvorlage
ordnet denn auch eine ganz andere sachgemäße Zusammensetzung an. Es
sollen für die Ernennung der Kreistagsmitglieder drei Wahlverbände gebildet
werden, erstens aus den größeren Grundbesitzern des platten Landes, zweitens
aus den Landgemeinden, drittens aus den Städten. Unter größeren Grund¬
besitzern sind solche verstanden, deren auf dem platten Lande des Kreises be"


geordnetenhaus hat die Auswahl unter den Grundbesitzern und Amtsvorstehern
ohne Unterschied freigegeben.

Schon die ältere Kreisverfassung hatte dem Landrath ein repräsentatives
Organ in dem Kreistag zur Seite gestellt. Diese Verfassung, die gegenwä-lig
noch in Kraft ist, beruht auf provinziellen Kreisordnungen, welche in den
Jahren 1826 bis 1828 erlassen wurden. Es hat sich bei der Ausarbeitung
dieser Kreisordnungen, wie man weiß, der Einfluß des damaligen Kronprin¬
zen, nachherigen Königs Friedrich Wilhelm IV. in eingreifender Weise geltend
gemacht. Der ganze Sinn dieses Fürsten ging auf Hervorziehung und Wie¬
derbelebung mittelalterlicher Reliquien, historischer oder eingebildeter, ohne
Rücksicht auf die leistenden und leistungsfähigen Kräfte der lebendigen Gesell¬
schaft. So wurden denn die Kreistage zusammengesetzt aus den Inhabern
solcher Güter, welche aus mittelalterlicher Erinnerung den Namen Rittergüter
trugen, obwohl solche Güter längst wie alle andern käuflich waren, obwohl
der Erbadel längst aufgehört hatte, eine Bedingung des Erwerbs zu sein.
Man erinnert sich der ärgerlichen Streitigkeiten, welche bisweilen vorkamen,
wenn Juden Besitzer von Rittergütern geworden waren und von den Mitgliedern
der Kreistage nicht zugelassen werden sollten, während doch die Verfassung
die Staatsämter ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses den Bürgern
zugänglich gemacht hatte. Wurde doch einmal durch den Abgeordneten von
Blankenburg erklärt, er wolle mit einem Juden in einem Bett schlafen, aber
nicht ihn auf den Kreistag zulassen. — Zu den Besitzern der ehemaligen
Rittergüter traten auf den bisherigen Kreistagen eine kleine Anzahl städtischer
Abgeordneten und drei, sage drei Abgeordnete des bäuerlichen Standes, erst
später hier und da vermehrt. Die städtischen Abgeordneten mußten in der
Regel Magistratspersonen sein, die der Landgemeinden Schulzen. Einige
Städte hatten besondere oder sogenannte Vinlstimmen. Die anderen wählten
Collectivabgeordnete. In manchen Kreisen gab es große Gütercomvlexe, die
weil sie nicht aus ehemals ritterschaftlichen Grundbesitz bestanden, ihrem Be¬
sitzer gar keine Vertretung auf dem Kreistag verschafften, während jeder Ritter¬
gutsbesitzer daselbst seine Stimme besaß, auch wenn sein Gut vielleicht an
materiellem Werth bis zur Unbedeutendheit eingebüßt hatte. Diese Zusammen¬
setzung der Kreistage war es, gegen welche, namentlich seitdem den Kreistagen
in den Jahren 1841 bis 1846 ein Besteuerungsrecht beigelegt worden, der
Widerspruch sich immer lauter erhob. Die gegenwärtige Regierungsvorlage
ordnet denn auch eine ganz andere sachgemäße Zusammensetzung an. Es
sollen für die Ernennung der Kreistagsmitglieder drei Wahlverbände gebildet
werden, erstens aus den größeren Grundbesitzern des platten Landes, zweitens
aus den Landgemeinden, drittens aus den Städten. Unter größeren Grund¬
besitzern sind solche verstanden, deren auf dem platten Lande des Kreises be«


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/117>, abgerufen am 24.08.2024.