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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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gleich. Man erzählt sich vom jetzigen Kaiser eine Anekdote aus der Zeit des
deutsch-französischen Krieges, welche diese Kleidung betrifft und zugleich zeigt,
wie derselbe seine Nation beurtheilt. Als die moskowitische Partei gegen den
deutschen Einfluß in Rußland mannichfach agitirte und auch beim Kaiser leise
Versuche gemacht wurden, ihn zu einer Wandlung in seinen Sympathieen
für Deutschland zu vermögen, soll der Kaiser gesagt haben: "Laßt mich mit
dergleichen Rathschlägen und Wünschen zufrieden! So lange meine Russen
noch das Hemd über den Hosen tragen, können sie die Deutschen noch nicht
entbehren."

In auffallender Weise tritt einem Jeden, der die russische Grenze über¬
schreitet, der umfassende Gebrauch des Thee's entgegen. Jenseits Bier --
diesseits Thee! Das ist die Regel im eminenten Sinne! Der Thee wird
in Rußland in Gläsern, stets ohne Sahne und nicht in übermäßiger Stärke
getrunken. Liebhaber lassen sich Apfelsinenscheiben in die Gläserlegen. Ein
Stückchen Zucker -- Sakuska, Zubiß -- darf nicht fehlen. Der Russe trinkt
den Thee zu jeder Tag- und Nachtzeit und zu jeder Mahlzeit. Aber der
Thee und der Branntwein ist in der That auch ein unentbehrliches Correlat
des Klimas. Ich weiß, daß es an Verketzerungen dieser Ansicht in dem letz¬
tern Punkte nicht fehlen wird. Aber es ist einmal nicht anders und alle
Theorie und alle Phrasen halten gegen die Thatsache nicht Stand, daß nicht
blos der Russe, sondern auch der Einwanderer bei dem Genuß beider Ge¬
tränke sich wohler befindet, als ohne denselben. Dem Ankömmling in Peters¬
burg werden sofort bei seiner Ankunft drei große sanitätische Lehren gepredigt,
die er auch nicht genug beherzigen kann: 1) Sorge für warme wollene Unter¬
bekleidung. 2) Trinke niemals Newawasser und 3) Genieße vor jeder Mahl¬
zeit ein Glas Branntwein. Mit diesen drei großen Gesundheitsregeln läßt sich
die Acelimatisation, die für den Aufenthalt in Rußland, vor Allem in
Petersburg nicht ohne Schwierigkeiten und Gefahren ist, immerhin leichter
und sicherer bewerkstelligen. Es ist dabei auffallend, daß der Branntwein¬
genuß in seinen sinnbetäubenden Wirkungen in Nußland gar nicht so empfun¬
den wird, wie in Deutschland und weiterhin. Man kann hier dreist und un¬
besorgt vor nachtheiligen Folgen die doppelte Quantität Branntweins von
gleichem Gehalt wie in Deutschland trinken. Der Russe kennt freilich kein
Maaß; er trinkt den Wodki in ungeheuren Quantitäten und sein Wodki ist
meist nur verdünnter Spiritus. Auch mag die Raffinade des Branntweins
demselben viel nachtheilige Beimischung nehmen. In ganz Deutschland, selbst
in der Heimath des ächten Kornbranntweins, in Nordhausen, findet man
nicht so reinen Branntwein wie in Rußland, wo man versteht, dem gebrann¬
ten Wasser auch den letzten Ruft fuseligen Geruchs und Geschmacks zu be-
nehmen. Der gemeine Russe wird freilich, da er ungereinigten Wodki von


Grenjboten it. 1872. 14

gleich. Man erzählt sich vom jetzigen Kaiser eine Anekdote aus der Zeit des
deutsch-französischen Krieges, welche diese Kleidung betrifft und zugleich zeigt,
wie derselbe seine Nation beurtheilt. Als die moskowitische Partei gegen den
deutschen Einfluß in Rußland mannichfach agitirte und auch beim Kaiser leise
Versuche gemacht wurden, ihn zu einer Wandlung in seinen Sympathieen
für Deutschland zu vermögen, soll der Kaiser gesagt haben: „Laßt mich mit
dergleichen Rathschlägen und Wünschen zufrieden! So lange meine Russen
noch das Hemd über den Hosen tragen, können sie die Deutschen noch nicht
entbehren."

In auffallender Weise tritt einem Jeden, der die russische Grenze über¬
schreitet, der umfassende Gebrauch des Thee's entgegen. Jenseits Bier —
diesseits Thee! Das ist die Regel im eminenten Sinne! Der Thee wird
in Rußland in Gläsern, stets ohne Sahne und nicht in übermäßiger Stärke
getrunken. Liebhaber lassen sich Apfelsinenscheiben in die Gläserlegen. Ein
Stückchen Zucker — Sakuska, Zubiß — darf nicht fehlen. Der Russe trinkt
den Thee zu jeder Tag- und Nachtzeit und zu jeder Mahlzeit. Aber der
Thee und der Branntwein ist in der That auch ein unentbehrliches Correlat
des Klimas. Ich weiß, daß es an Verketzerungen dieser Ansicht in dem letz¬
tern Punkte nicht fehlen wird. Aber es ist einmal nicht anders und alle
Theorie und alle Phrasen halten gegen die Thatsache nicht Stand, daß nicht
blos der Russe, sondern auch der Einwanderer bei dem Genuß beider Ge¬
tränke sich wohler befindet, als ohne denselben. Dem Ankömmling in Peters¬
burg werden sofort bei seiner Ankunft drei große sanitätische Lehren gepredigt,
die er auch nicht genug beherzigen kann: 1) Sorge für warme wollene Unter¬
bekleidung. 2) Trinke niemals Newawasser und 3) Genieße vor jeder Mahl¬
zeit ein Glas Branntwein. Mit diesen drei großen Gesundheitsregeln läßt sich
die Acelimatisation, die für den Aufenthalt in Rußland, vor Allem in
Petersburg nicht ohne Schwierigkeiten und Gefahren ist, immerhin leichter
und sicherer bewerkstelligen. Es ist dabei auffallend, daß der Branntwein¬
genuß in seinen sinnbetäubenden Wirkungen in Nußland gar nicht so empfun¬
den wird, wie in Deutschland und weiterhin. Man kann hier dreist und un¬
besorgt vor nachtheiligen Folgen die doppelte Quantität Branntweins von
gleichem Gehalt wie in Deutschland trinken. Der Russe kennt freilich kein
Maaß; er trinkt den Wodki in ungeheuren Quantitäten und sein Wodki ist
meist nur verdünnter Spiritus. Auch mag die Raffinade des Branntweins
demselben viel nachtheilige Beimischung nehmen. In ganz Deutschland, selbst
in der Heimath des ächten Kornbranntweins, in Nordhausen, findet man
nicht so reinen Branntwein wie in Rußland, wo man versteht, dem gebrann¬
ten Wasser auch den letzten Ruft fuseligen Geruchs und Geschmacks zu be-
nehmen. Der gemeine Russe wird freilich, da er ungereinigten Wodki von


Grenjboten it. 1872. 14
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/113>, abgerufen am 22.12.2024.