Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ich in Nußland Niemandem rathen, wenn er nicht mit jenem Ungeziefer Be¬
kanntschaft machen will, welches in Deutschland doch im Allgemeinen zu den
Raritäten gehört. Man sagt, daß die Russen gern und viel baden. Die
Thatsache ist richtig, auch beim gemeinen Mann und die Badestuben spielen
in Rußland überall eine große Rolle. Aber selbst dieses anscheinende Symptom
des Reinlichkeitstriebes ist im Grunde nichts als ein Beweis der Unsauber-
keit. Bei den gemeinen Russen vertritt das Bad die Stelle, welche bei uns
das Waschen der großen Wäsche bedeutet.. Sie tragen ihre Wäsche und ihre
Strümpfe, wenn sie solche haben, so lange, bis dieser Zustand ihnen uner¬
träglich wird; dann wird gebadet. Die russischen Dienstboten bringen in der
Regel Tag und Nacht ihr Schuhwerk nicht von den Füßen und für das Ge¬
fühl, welches wir empfinden, wenn wir uns der Fußbekleidung entledigt und
Hausschuhe angezogen haben, besitzen sie durchaus keinen Sinn. Der russische
Dienstbote schläft, selbst wenn er bei wohlhabenden und angesehenern Stadt¬
bewohnern dient, in der Regel auf der nackten Diele. Eine Wolldecke und
ein Kopfkissen ist die einzige Bequemlichkeit der Nacht. Auf Backöfen zu
schlafen ist ein Hochgenuß. Schürzen sind den Russinnen unbekannt und
Taschentücher gelten für einen Luxusartikel bei den gemeinen Russen, Männern
wie Weibern. Ich bemerkte bald nach meiner Ankunft in Petersburg bei
einem mir befreundeten Photographen mehrfach Photographien, auf welchen
sich die Bilder zweier Personen vorfanden, von denen jede den Zipfel eines
und desselben Taschentuches in der Hand hält. Mir war diese seltsame Dar-
stellung neu und unverständlich, bis mich der Mann belehrte, daß diese Atti¬
tüde ein inniges Freundschaftsbündniß symbolisire. Es ist für die gemeinen
Russen ein Stolz, sich so darstellen zu lassen. Nicht Alle können aber dieser
Auszeichnung theilhaftig werden, denn dazu gehört wenigstens ein Taschen¬
tuch; -- ein Taschentuch für Beide und das ist, als Luxusartikel, nicht immer
zur Stelle. Auch die Tracht des gemeinen Russen ist eben kein Beweis von
sonderlicher Reinlichkeit.. Er trägt sein Hemd als Oberkleid über die Bein¬
kleider. Man ist in "Deutschland geneigt, die buntfarbige Blouse, welche die
männlichen Domestiken russischer in Deutschland reisender oder dort wohnen¬
der Familien unter der Weste und über dem Beinkleid tragen, wirklich für
eine Art Oberkleid zu halten. Das ist es nicht; jener Bekleidungsgegenstand
ist in der That nichts als das Hemd und es ist bezeichnend, daß der gemeine
Russe das Hemd nicht aus Neinlichkeitsrücksichten trägt, sondern zur Zierde.
Weiße Hemden werden fast nie bemerkt; sie sind farbig und meistens roth,
in allen Schattirungen dieser Farbe, am liebsten lichtroth. Es entspricht dies
ganz der Geschmacksrichtung des Russen, welcher die rothe Farbe für das
Schönste hält, was sich dem Auge präsentiren kann, und er hat daher auch
sür beide Begriffe ein und dasselbe Wort: Xr^sui heißt roth und schön zu-


ich in Nußland Niemandem rathen, wenn er nicht mit jenem Ungeziefer Be¬
kanntschaft machen will, welches in Deutschland doch im Allgemeinen zu den
Raritäten gehört. Man sagt, daß die Russen gern und viel baden. Die
Thatsache ist richtig, auch beim gemeinen Mann und die Badestuben spielen
in Rußland überall eine große Rolle. Aber selbst dieses anscheinende Symptom
des Reinlichkeitstriebes ist im Grunde nichts als ein Beweis der Unsauber-
keit. Bei den gemeinen Russen vertritt das Bad die Stelle, welche bei uns
das Waschen der großen Wäsche bedeutet.. Sie tragen ihre Wäsche und ihre
Strümpfe, wenn sie solche haben, so lange, bis dieser Zustand ihnen uner¬
träglich wird; dann wird gebadet. Die russischen Dienstboten bringen in der
Regel Tag und Nacht ihr Schuhwerk nicht von den Füßen und für das Ge¬
fühl, welches wir empfinden, wenn wir uns der Fußbekleidung entledigt und
Hausschuhe angezogen haben, besitzen sie durchaus keinen Sinn. Der russische
Dienstbote schläft, selbst wenn er bei wohlhabenden und angesehenern Stadt¬
bewohnern dient, in der Regel auf der nackten Diele. Eine Wolldecke und
ein Kopfkissen ist die einzige Bequemlichkeit der Nacht. Auf Backöfen zu
schlafen ist ein Hochgenuß. Schürzen sind den Russinnen unbekannt und
Taschentücher gelten für einen Luxusartikel bei den gemeinen Russen, Männern
wie Weibern. Ich bemerkte bald nach meiner Ankunft in Petersburg bei
einem mir befreundeten Photographen mehrfach Photographien, auf welchen
sich die Bilder zweier Personen vorfanden, von denen jede den Zipfel eines
und desselben Taschentuches in der Hand hält. Mir war diese seltsame Dar-
stellung neu und unverständlich, bis mich der Mann belehrte, daß diese Atti¬
tüde ein inniges Freundschaftsbündniß symbolisire. Es ist für die gemeinen
Russen ein Stolz, sich so darstellen zu lassen. Nicht Alle können aber dieser
Auszeichnung theilhaftig werden, denn dazu gehört wenigstens ein Taschen¬
tuch; — ein Taschentuch für Beide und das ist, als Luxusartikel, nicht immer
zur Stelle. Auch die Tracht des gemeinen Russen ist eben kein Beweis von
sonderlicher Reinlichkeit.. Er trägt sein Hemd als Oberkleid über die Bein¬
kleider. Man ist in "Deutschland geneigt, die buntfarbige Blouse, welche die
männlichen Domestiken russischer in Deutschland reisender oder dort wohnen¬
der Familien unter der Weste und über dem Beinkleid tragen, wirklich für
eine Art Oberkleid zu halten. Das ist es nicht; jener Bekleidungsgegenstand
ist in der That nichts als das Hemd und es ist bezeichnend, daß der gemeine
Russe das Hemd nicht aus Neinlichkeitsrücksichten trägt, sondern zur Zierde.
Weiße Hemden werden fast nie bemerkt; sie sind farbig und meistens roth,
in allen Schattirungen dieser Farbe, am liebsten lichtroth. Es entspricht dies
ganz der Geschmacksrichtung des Russen, welcher die rothe Farbe für das
Schönste hält, was sich dem Auge präsentiren kann, und er hat daher auch
sür beide Begriffe ein und dasselbe Wort: Xr^sui heißt roth und schön zu-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0112" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127508"/>
          <p xml:id="ID_347" prev="#ID_346" next="#ID_348"> ich in Nußland Niemandem rathen, wenn er nicht mit jenem Ungeziefer Be¬<lb/>
kanntschaft machen will, welches in Deutschland doch im Allgemeinen zu den<lb/>
Raritäten gehört. Man sagt, daß die Russen gern und viel baden. Die<lb/>
Thatsache ist richtig, auch beim gemeinen Mann und die Badestuben spielen<lb/>
in Rußland überall eine große Rolle. Aber selbst dieses anscheinende Symptom<lb/>
des Reinlichkeitstriebes ist im Grunde nichts als ein Beweis der Unsauber-<lb/>
keit. Bei den gemeinen Russen vertritt das Bad die Stelle, welche bei uns<lb/>
das Waschen der großen Wäsche bedeutet.. Sie tragen ihre Wäsche und ihre<lb/>
Strümpfe, wenn sie solche haben, so lange, bis dieser Zustand ihnen uner¬<lb/>
träglich wird; dann wird gebadet. Die russischen Dienstboten bringen in der<lb/>
Regel Tag und Nacht ihr Schuhwerk nicht von den Füßen und für das Ge¬<lb/>
fühl, welches wir empfinden, wenn wir uns der Fußbekleidung entledigt und<lb/>
Hausschuhe angezogen haben, besitzen sie durchaus keinen Sinn. Der russische<lb/>
Dienstbote schläft, selbst wenn er bei wohlhabenden und angesehenern Stadt¬<lb/>
bewohnern dient, in der Regel auf der nackten Diele. Eine Wolldecke und<lb/>
ein Kopfkissen ist die einzige Bequemlichkeit der Nacht. Auf Backöfen zu<lb/>
schlafen ist ein Hochgenuß. Schürzen sind den Russinnen unbekannt und<lb/>
Taschentücher gelten für einen Luxusartikel bei den gemeinen Russen, Männern<lb/>
wie Weibern. Ich bemerkte bald nach meiner Ankunft in Petersburg bei<lb/>
einem mir befreundeten Photographen mehrfach Photographien, auf welchen<lb/>
sich die Bilder zweier Personen vorfanden, von denen jede den Zipfel eines<lb/>
und desselben Taschentuches in der Hand hält. Mir war diese seltsame Dar-<lb/>
stellung neu und unverständlich, bis mich der Mann belehrte, daß diese Atti¬<lb/>
tüde ein inniges Freundschaftsbündniß symbolisire. Es ist für die gemeinen<lb/>
Russen ein Stolz, sich so darstellen zu lassen. Nicht Alle können aber dieser<lb/>
Auszeichnung theilhaftig werden, denn dazu gehört wenigstens ein Taschen¬<lb/>
tuch; &#x2014; ein Taschentuch für Beide und das ist, als Luxusartikel, nicht immer<lb/>
zur Stelle. Auch die Tracht des gemeinen Russen ist eben kein Beweis von<lb/>
sonderlicher Reinlichkeit.. Er trägt sein Hemd als Oberkleid über die Bein¬<lb/>
kleider. Man ist in "Deutschland geneigt, die buntfarbige Blouse, welche die<lb/>
männlichen Domestiken russischer in Deutschland reisender oder dort wohnen¬<lb/>
der Familien unter der Weste und über dem Beinkleid tragen, wirklich für<lb/>
eine Art Oberkleid zu halten. Das ist es nicht; jener Bekleidungsgegenstand<lb/>
ist in der That nichts als das Hemd und es ist bezeichnend, daß der gemeine<lb/>
Russe das Hemd nicht aus Neinlichkeitsrücksichten trägt, sondern zur Zierde.<lb/>
Weiße Hemden werden fast nie bemerkt; sie sind farbig und meistens roth,<lb/>
in allen Schattirungen dieser Farbe, am liebsten lichtroth. Es entspricht dies<lb/>
ganz der Geschmacksrichtung des Russen, welcher die rothe Farbe für das<lb/>
Schönste hält, was sich dem Auge präsentiren kann, und er hat daher auch<lb/>
sür beide Begriffe ein und dasselbe Wort: Xr^sui heißt roth und schön zu-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0112] ich in Nußland Niemandem rathen, wenn er nicht mit jenem Ungeziefer Be¬ kanntschaft machen will, welches in Deutschland doch im Allgemeinen zu den Raritäten gehört. Man sagt, daß die Russen gern und viel baden. Die Thatsache ist richtig, auch beim gemeinen Mann und die Badestuben spielen in Rußland überall eine große Rolle. Aber selbst dieses anscheinende Symptom des Reinlichkeitstriebes ist im Grunde nichts als ein Beweis der Unsauber- keit. Bei den gemeinen Russen vertritt das Bad die Stelle, welche bei uns das Waschen der großen Wäsche bedeutet.. Sie tragen ihre Wäsche und ihre Strümpfe, wenn sie solche haben, so lange, bis dieser Zustand ihnen uner¬ träglich wird; dann wird gebadet. Die russischen Dienstboten bringen in der Regel Tag und Nacht ihr Schuhwerk nicht von den Füßen und für das Ge¬ fühl, welches wir empfinden, wenn wir uns der Fußbekleidung entledigt und Hausschuhe angezogen haben, besitzen sie durchaus keinen Sinn. Der russische Dienstbote schläft, selbst wenn er bei wohlhabenden und angesehenern Stadt¬ bewohnern dient, in der Regel auf der nackten Diele. Eine Wolldecke und ein Kopfkissen ist die einzige Bequemlichkeit der Nacht. Auf Backöfen zu schlafen ist ein Hochgenuß. Schürzen sind den Russinnen unbekannt und Taschentücher gelten für einen Luxusartikel bei den gemeinen Russen, Männern wie Weibern. Ich bemerkte bald nach meiner Ankunft in Petersburg bei einem mir befreundeten Photographen mehrfach Photographien, auf welchen sich die Bilder zweier Personen vorfanden, von denen jede den Zipfel eines und desselben Taschentuches in der Hand hält. Mir war diese seltsame Dar- stellung neu und unverständlich, bis mich der Mann belehrte, daß diese Atti¬ tüde ein inniges Freundschaftsbündniß symbolisire. Es ist für die gemeinen Russen ein Stolz, sich so darstellen zu lassen. Nicht Alle können aber dieser Auszeichnung theilhaftig werden, denn dazu gehört wenigstens ein Taschen¬ tuch; — ein Taschentuch für Beide und das ist, als Luxusartikel, nicht immer zur Stelle. Auch die Tracht des gemeinen Russen ist eben kein Beweis von sonderlicher Reinlichkeit.. Er trägt sein Hemd als Oberkleid über die Bein¬ kleider. Man ist in "Deutschland geneigt, die buntfarbige Blouse, welche die männlichen Domestiken russischer in Deutschland reisender oder dort wohnen¬ der Familien unter der Weste und über dem Beinkleid tragen, wirklich für eine Art Oberkleid zu halten. Das ist es nicht; jener Bekleidungsgegenstand ist in der That nichts als das Hemd und es ist bezeichnend, daß der gemeine Russe das Hemd nicht aus Neinlichkeitsrücksichten trägt, sondern zur Zierde. Weiße Hemden werden fast nie bemerkt; sie sind farbig und meistens roth, in allen Schattirungen dieser Farbe, am liebsten lichtroth. Es entspricht dies ganz der Geschmacksrichtung des Russen, welcher die rothe Farbe für das Schönste hält, was sich dem Auge präsentiren kann, und er hat daher auch sür beide Begriffe ein und dasselbe Wort: Xr^sui heißt roth und schön zu-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/112
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/112>, abgerufen am 24.08.2024.