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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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dürfen unter Umständen auf eine ziemlich strenge Controle rechnen. Die
Pässe unterliegen dagegen einer sehr strengen Durchsicht, und die kleinste
Formverletzung genügt, die Zurückspedirung des Passagiers über die Grenze
unter Begleitung eines Gendarmen herbeizuführen. Wehe dem Passagier,
der sich in einer solchen Lage befindet, oder dessen Zug, wie außerordentlich
häufig vorkommt, den Anschluß nicht erreicht. Denn in Wirrballen und Eydt-
kuhnen herrscht das getreue Abbild des Strandrechts; man könnte es das
trockene Strandrecht nennen. Die meisten der dortigen Gastwirthe
leben von diesem Strandrechte. Zu gewöhnlichen Zeiten verirrt sich selten
ein Reisender in diese elenden Grenzorte. Die Ebbe in den Einnahmen
müssen jene bedauernswerthen Reisenden mit ihrem Geldbeutel wieder aus¬
gleichen, die durch widrige Borfälle an der Grenze festgehalten werden. Die
Rechnungen, mit welchen der Reisende bei seinem Abzüge erfreut wird, über¬
steigen den höchsten Satz der Preise in den ersten Hotels von Petersburg,
Berlin und Paris. Ich halte für meine Pflicht,' das Publicum angelegentlich
in eigenem Interesse vor diesem Raubsystem in Wirrballen und Eydtkuhnen
zu warnen.

Durch nichts charakterisirt sich der Uebertritt nach Rußland, als in ein
von den Nachbarländern scharf abgeschlossenes Reich mehr, als in sprachlicher
Beziehung. Der Deutsche, der nicht der russischen Sprache mächtig ist, sucht
vergebens nach deutschen Leuten. Der Zollbeamte, der Packträger, der
Schaffner, der Büreaubeamte, der Gendarm u. s. w., -- alle antworten russisch,
wenn sie in einer andern Sprache angeredet werden. Nur der Restaurateur,
ein Franzose, und seine Kellner, diese wenigstens zum Theil, verstehen deutsch
oder französisch. In andern Grenzgebieten findet ein allmählicher Uebergang
der sprachlichen Verhältnisse statt und es giebt überall einen Streifen Landes,
wo sich die Sprachen beider Grenzländer die Hand reichen und neben einander
im Gebrauch sind. Nach Nußland hinein ist diesseit der Grenze Alles
deutsch, jenseits Alles russisch. Der Eindruck ist in Verbindung mit den sonst
begleitenden Umständen kein guter, und das Gefühl der Verlassenheit bemäch¬
tigt sich des Reisenden. Er wirft gern die ihm ungewohnten russischen Silber¬
stücke in Menge hin, um nur die Wünsche, die er symbolisch andeutet, be¬
friedigt zu sehen. Auf diese Weise sieht er sich genöthigt, sich mit dem
Steuerbeamten, dem Packträger, dem Schaffner des ihn weiter in's Land
hineinführenden Zuges so gut es gehen will, zu verständigen.

Der Weg von der Grenze bis nach Se. Petersburg trägt -- in seiner
Entfernung von über 100 Meilen -- nicht dazu bei, den Eindruck, den Land
und Leute machen, zu verbessern. Halbe Tage lang fährt der Eisenbahnzug
durch Steppen. Urlaub, abgeholzte Wälder, Sümpfe oder Sand. Nur in der
Gegend von Kowno und vor Allem bei Wilna wird die Landschaft angenehm


dürfen unter Umständen auf eine ziemlich strenge Controle rechnen. Die
Pässe unterliegen dagegen einer sehr strengen Durchsicht, und die kleinste
Formverletzung genügt, die Zurückspedirung des Passagiers über die Grenze
unter Begleitung eines Gendarmen herbeizuführen. Wehe dem Passagier,
der sich in einer solchen Lage befindet, oder dessen Zug, wie außerordentlich
häufig vorkommt, den Anschluß nicht erreicht. Denn in Wirrballen und Eydt-
kuhnen herrscht das getreue Abbild des Strandrechts; man könnte es das
trockene Strandrecht nennen. Die meisten der dortigen Gastwirthe
leben von diesem Strandrechte. Zu gewöhnlichen Zeiten verirrt sich selten
ein Reisender in diese elenden Grenzorte. Die Ebbe in den Einnahmen
müssen jene bedauernswerthen Reisenden mit ihrem Geldbeutel wieder aus¬
gleichen, die durch widrige Borfälle an der Grenze festgehalten werden. Die
Rechnungen, mit welchen der Reisende bei seinem Abzüge erfreut wird, über¬
steigen den höchsten Satz der Preise in den ersten Hotels von Petersburg,
Berlin und Paris. Ich halte für meine Pflicht,' das Publicum angelegentlich
in eigenem Interesse vor diesem Raubsystem in Wirrballen und Eydtkuhnen
zu warnen.

Durch nichts charakterisirt sich der Uebertritt nach Rußland, als in ein
von den Nachbarländern scharf abgeschlossenes Reich mehr, als in sprachlicher
Beziehung. Der Deutsche, der nicht der russischen Sprache mächtig ist, sucht
vergebens nach deutschen Leuten. Der Zollbeamte, der Packträger, der
Schaffner, der Büreaubeamte, der Gendarm u. s. w., — alle antworten russisch,
wenn sie in einer andern Sprache angeredet werden. Nur der Restaurateur,
ein Franzose, und seine Kellner, diese wenigstens zum Theil, verstehen deutsch
oder französisch. In andern Grenzgebieten findet ein allmählicher Uebergang
der sprachlichen Verhältnisse statt und es giebt überall einen Streifen Landes,
wo sich die Sprachen beider Grenzländer die Hand reichen und neben einander
im Gebrauch sind. Nach Nußland hinein ist diesseit der Grenze Alles
deutsch, jenseits Alles russisch. Der Eindruck ist in Verbindung mit den sonst
begleitenden Umständen kein guter, und das Gefühl der Verlassenheit bemäch¬
tigt sich des Reisenden. Er wirft gern die ihm ungewohnten russischen Silber¬
stücke in Menge hin, um nur die Wünsche, die er symbolisch andeutet, be¬
friedigt zu sehen. Auf diese Weise sieht er sich genöthigt, sich mit dem
Steuerbeamten, dem Packträger, dem Schaffner des ihn weiter in's Land
hineinführenden Zuges so gut es gehen will, zu verständigen.

Der Weg von der Grenze bis nach Se. Petersburg trägt — in seiner
Entfernung von über 100 Meilen — nicht dazu bei, den Eindruck, den Land
und Leute machen, zu verbessern. Halbe Tage lang fährt der Eisenbahnzug
durch Steppen. Urlaub, abgeholzte Wälder, Sümpfe oder Sand. Nur in der
Gegend von Kowno und vor Allem bei Wilna wird die Landschaft angenehm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/110>, abgerufen am 22.07.2024.