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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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die Theile der Strömung auseinander und weist jeder Strömung ihr klar
bezeichnetes Bett an. Aber die Schönheit und Reinheit der einzelnen
Spiegelung, die Innigkeit und Tiefe ist bei Jacob Grimm so ähnlich Goethe,
wie bei keinem zweiten Deutschen.

Durchwandern wir flüchtig die einzelnen Aufsätze der Sammlung. Es
ist anziehend zu gewahren, wie bei der Verschiedenartigkeit der Gegenstände
die Lieblingsüberzeugungen des Verfassers sich unerwartet hervordrängen und
doch sich immer mit dem Thema sinnig und natürlich verknüpfen. Eine Be¬
friedigung seltener Art gewährt es dann, diese Lieblingsgedanken aus dem
Grundzug des Schriftstellers zu verstehen.

Die Sammlung eröffnet mit dem bekannten Bruchstück einer Selbstbio- >
graphie, das nicht weiter als an das Ende des Casseler Aufenthaltes reicht.
Diese Erzählung in ihrer unvergleichlichen Schlichtheit, welche den einfachen
und einförmigen Anfang eines gelehrten Lebens beschreibt, dessen Größe in
den Früchten seiner stillen Arbeit liegt, ist wohl den meisten auch der hiesigen
Leser eingeprägt. Das Einfachste auf die einfachste Weise beschrieben, und
doch überall der Athemzug einer eben so hohen als kindlich reinen Seele. Wir
heben nur eine einzige Bemerkung daraus hervor. Indem er von der Dürf¬
tigkeit seiner Jugend spricht und äußert, daß ihn dieselbe nie geschmerzt habe,
fügt Jacob Grimm hinzu: "ich möchte sogar die Behauptung allgemeiner
fassen und vieles von dem, was Deutsche überhaupt geleistet haben, grade
dem beilegen, daß sie kein reiches Volk sind. Sie arbeiten von unten herauf
und brechen sich viele eigenthümliche Wege, während andere Völker mehr auf
einer breiten gebahnten Heerstraße wandeln." -- Dieselbe Betrachtung kehrt
in einer späteren Abhandlung über Schule, Universität, Akademie wieder. An
der letzteren Stelle bemerkt Jacob Grimm, daß es nicht immer die Güte der
Schule ist, welche solche Schüler hervorbringt, die später Großes, leisten. Wir
unsererseits müssen wohl gestehen, daß ein solcher Zweifel zu verkehrten Fol¬
gerungen führen könnte; grade so wie wir es nicht beklagen dürfen, daß dem
deutschen Volke endlich die Bahnen eröffnet sind, zum Reichthum zu gelangen.
Aber der Zug, aus dem solche Ansichten stammen, muß uns mit Ehrfurcht
erfüllen. Es ist der Zug einer Seele, die durch und durch Leben ist, die über¬
all dem Leben lauscht, seinen Erweckern und seinen Feinden, die in dem zer¬
klüfteten Gestein, über welches der Bach um so kräftiger dahinstürzt, einen Er-
wecker, in dem breiten Gefilde, in dem er sich verliert, einen Feind sieht.
Diese Seele erkannte nur da Leben, wo die ganze Ursprünglichkeit des Lebens
ist; von blos mitgetheilter, nur fortgeflcmzter Bewegung wandte sie sich als
von einer unechten, künstlichen ab.

Der zweite Aufsatz der Sammlung behandelt die Entlassung aus der
göttinger Professur, von welcher Jacob Grimm als Theilnehmer an dem


die Theile der Strömung auseinander und weist jeder Strömung ihr klar
bezeichnetes Bett an. Aber die Schönheit und Reinheit der einzelnen
Spiegelung, die Innigkeit und Tiefe ist bei Jacob Grimm so ähnlich Goethe,
wie bei keinem zweiten Deutschen.

Durchwandern wir flüchtig die einzelnen Aufsätze der Sammlung. Es
ist anziehend zu gewahren, wie bei der Verschiedenartigkeit der Gegenstände
die Lieblingsüberzeugungen des Verfassers sich unerwartet hervordrängen und
doch sich immer mit dem Thema sinnig und natürlich verknüpfen. Eine Be¬
friedigung seltener Art gewährt es dann, diese Lieblingsgedanken aus dem
Grundzug des Schriftstellers zu verstehen.

Die Sammlung eröffnet mit dem bekannten Bruchstück einer Selbstbio- >
graphie, das nicht weiter als an das Ende des Casseler Aufenthaltes reicht.
Diese Erzählung in ihrer unvergleichlichen Schlichtheit, welche den einfachen
und einförmigen Anfang eines gelehrten Lebens beschreibt, dessen Größe in
den Früchten seiner stillen Arbeit liegt, ist wohl den meisten auch der hiesigen
Leser eingeprägt. Das Einfachste auf die einfachste Weise beschrieben, und
doch überall der Athemzug einer eben so hohen als kindlich reinen Seele. Wir
heben nur eine einzige Bemerkung daraus hervor. Indem er von der Dürf¬
tigkeit seiner Jugend spricht und äußert, daß ihn dieselbe nie geschmerzt habe,
fügt Jacob Grimm hinzu: „ich möchte sogar die Behauptung allgemeiner
fassen und vieles von dem, was Deutsche überhaupt geleistet haben, grade
dem beilegen, daß sie kein reiches Volk sind. Sie arbeiten von unten herauf
und brechen sich viele eigenthümliche Wege, während andere Völker mehr auf
einer breiten gebahnten Heerstraße wandeln." — Dieselbe Betrachtung kehrt
in einer späteren Abhandlung über Schule, Universität, Akademie wieder. An
der letzteren Stelle bemerkt Jacob Grimm, daß es nicht immer die Güte der
Schule ist, welche solche Schüler hervorbringt, die später Großes, leisten. Wir
unsererseits müssen wohl gestehen, daß ein solcher Zweifel zu verkehrten Fol¬
gerungen führen könnte; grade so wie wir es nicht beklagen dürfen, daß dem
deutschen Volke endlich die Bahnen eröffnet sind, zum Reichthum zu gelangen.
Aber der Zug, aus dem solche Ansichten stammen, muß uns mit Ehrfurcht
erfüllen. Es ist der Zug einer Seele, die durch und durch Leben ist, die über¬
all dem Leben lauscht, seinen Erweckern und seinen Feinden, die in dem zer¬
klüfteten Gestein, über welches der Bach um so kräftiger dahinstürzt, einen Er-
wecker, in dem breiten Gefilde, in dem er sich verliert, einen Feind sieht.
Diese Seele erkannte nur da Leben, wo die ganze Ursprünglichkeit des Lebens
ist; von blos mitgetheilter, nur fortgeflcmzter Bewegung wandte sie sich als
von einer unechten, künstlichen ab.

Der zweite Aufsatz der Sammlung behandelt die Entlassung aus der
göttinger Professur, von welcher Jacob Grimm als Theilnehmer an dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/11>, abgerufen am 22.07.2024.