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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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genügender Information oder aus oberflächlicher Anschauung, Irrthümer des
Urtheils unterlaufen, die eine gründliche Orientirung wohl vermieden hätte.
In diesen Fehler ist Hepworth Dixon in seiner bekannten Schrift "Free-
Russia" verfallen. Von dem, was der Verfasser aus seiner mehrmonatlichen
Anwesenheit in Rußland gemeldet, ist Vieles ebenso interessant als wahr.
Anderes dagegen beruht auf einer nur oberflächlichen und irrthümlichen An¬
schauung. Der Verfasser dieser Zeilen vereinigt die Vortheile des frischen
Eindruckes mit denen einer Stellung und eines Aufenthaltes von solcher
Dauer, daß er sichere Informationen verbürgen kann. Sein Streben wird
darauf gerichtet sein, den von ihm entworfenen Zeichnungen eine scharfe und
wahre Charakteristik zu verleihen, die im Interesse der Leser dem wohlfeilen
Verdienst einer vielleicht pikanteren Darstellung auf Kosten der Wahrheit wohl
vorzuziehen ist.

Wenn man auf der königlichen Ostbahn bei Eydtkuhnen die russische
Grenze überschreitet, macht sich augenblicklich ein Gegensatz wenig erfreulicher
Art bemerkbar. Die rothen Ziegeldächer der Bauernhäuser, die freundlichen
Blumengärten in deren Nähe verschwinden, und an ihrer Stelle empfängt das
Auge den Anblick zerstreut liegender, kleiner, ungestalter, elender Hütten mit
Strohdächern und beinahe ohne Fenster. Auch die Tracht der Menschen wird
plötzlich eine andere. - Der Bahnzug, als wollte er den Unterschied unter dem
vollen Eindruck des Unbehagens empfinden lassen, bewegt sich in langsamsten
Tempo bis zur ersten Station auf russischem Boden -- nach Wirballen. Die
Waggons des Zuges, die sich, je näher der Grenze desto mehr gelichtet haben,
bergen jetzt nur noch die Passagiere, welche das Zarenreich betreten wollen.
Geräuschlos fährt der Zug in den Bahnhof, wo uns nur russische Laute em¬
pfangen. Mit dem letzten deutschen Conducteur, der bald nach Eydtkuhnen,
im Stillen von unseren wehmüthigen Grüßen in die Heimath begleitet, um¬
kehrt, ist das letzte Band gelöst, das uns noch an das Vaterland kettete. Wir
sind in Rußland! Unsere Pässe werden uns abgenommen und dann dürfen
wir aussteigen, aber nicht, um uns frei bewegen zu können, sondern nur, um
die große Rotunde der von Oberlicht erleuchteten Empfangshalle zu betreten,
in welcher Pässe und Gepäck revidirt werden. Hinein darf Jeder, heraus
Niemand mehr. Ein russischer Gensdarm hält strenge Wache.

Man muß den russischen Grenzbehörden die Gerechtigkeit widerfahren
lassen, daß die aus den Tagen des Kaiser Nicolaus verrufenen Zoll-Scheere-
reien um Vieles schmerzloser und milder geworden sind. Die Revision des
Gepäckes erfolgt mit einer gewissen Noblesse. Manche Stücke werden gar
nicht, andere nur flüchtig untersucht, das heißt bei unverdächtigen Personen.
Denn die Zollbeamten haben einen auffallend sicheren Blick und gewisse Per¬
sonen, namentlich Damen, denen man eine Neigung zur Contrebande zutraut.


genügender Information oder aus oberflächlicher Anschauung, Irrthümer des
Urtheils unterlaufen, die eine gründliche Orientirung wohl vermieden hätte.
In diesen Fehler ist Hepworth Dixon in seiner bekannten Schrift „Free-
Russia" verfallen. Von dem, was der Verfasser aus seiner mehrmonatlichen
Anwesenheit in Rußland gemeldet, ist Vieles ebenso interessant als wahr.
Anderes dagegen beruht auf einer nur oberflächlichen und irrthümlichen An¬
schauung. Der Verfasser dieser Zeilen vereinigt die Vortheile des frischen
Eindruckes mit denen einer Stellung und eines Aufenthaltes von solcher
Dauer, daß er sichere Informationen verbürgen kann. Sein Streben wird
darauf gerichtet sein, den von ihm entworfenen Zeichnungen eine scharfe und
wahre Charakteristik zu verleihen, die im Interesse der Leser dem wohlfeilen
Verdienst einer vielleicht pikanteren Darstellung auf Kosten der Wahrheit wohl
vorzuziehen ist.

Wenn man auf der königlichen Ostbahn bei Eydtkuhnen die russische
Grenze überschreitet, macht sich augenblicklich ein Gegensatz wenig erfreulicher
Art bemerkbar. Die rothen Ziegeldächer der Bauernhäuser, die freundlichen
Blumengärten in deren Nähe verschwinden, und an ihrer Stelle empfängt das
Auge den Anblick zerstreut liegender, kleiner, ungestalter, elender Hütten mit
Strohdächern und beinahe ohne Fenster. Auch die Tracht der Menschen wird
plötzlich eine andere. - Der Bahnzug, als wollte er den Unterschied unter dem
vollen Eindruck des Unbehagens empfinden lassen, bewegt sich in langsamsten
Tempo bis zur ersten Station auf russischem Boden — nach Wirballen. Die
Waggons des Zuges, die sich, je näher der Grenze desto mehr gelichtet haben,
bergen jetzt nur noch die Passagiere, welche das Zarenreich betreten wollen.
Geräuschlos fährt der Zug in den Bahnhof, wo uns nur russische Laute em¬
pfangen. Mit dem letzten deutschen Conducteur, der bald nach Eydtkuhnen,
im Stillen von unseren wehmüthigen Grüßen in die Heimath begleitet, um¬
kehrt, ist das letzte Band gelöst, das uns noch an das Vaterland kettete. Wir
sind in Rußland! Unsere Pässe werden uns abgenommen und dann dürfen
wir aussteigen, aber nicht, um uns frei bewegen zu können, sondern nur, um
die große Rotunde der von Oberlicht erleuchteten Empfangshalle zu betreten,
in welcher Pässe und Gepäck revidirt werden. Hinein darf Jeder, heraus
Niemand mehr. Ein russischer Gensdarm hält strenge Wache.

Man muß den russischen Grenzbehörden die Gerechtigkeit widerfahren
lassen, daß die aus den Tagen des Kaiser Nicolaus verrufenen Zoll-Scheere-
reien um Vieles schmerzloser und milder geworden sind. Die Revision des
Gepäckes erfolgt mit einer gewissen Noblesse. Manche Stücke werden gar
nicht, andere nur flüchtig untersucht, das heißt bei unverdächtigen Personen.
Denn die Zollbeamten haben einen auffallend sicheren Blick und gewisse Per¬
sonen, namentlich Damen, denen man eine Neigung zur Contrebande zutraut.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/109>, abgerufen am 22.07.2024.