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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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die nationalen Grenzen hinausführen. Die national gesinnten Deutschen aller
Confessionen stimmten diesen Erklärungen bei. Dabei konnte nicht fehlen,
daß die Stellung der sogenannten Centrumsfraction, ja die bloße Existenz
derselben vielfach einer verwerfenden Kritik verfiel, denn man sagte sich: was
soll eine Partei im Reichstag und welches Recht hat eine Partei zu bestehen,
die nicht einen Weg der nationalen Wohlfahrt. Bildung, Sittlichkeit und
Eintracht verfolgt, sondern die aus der Nation mit ihrer jetzigen Größe und
Kraft ein Mittel für einen ausländischen Zweck macht.

Daß nun Herr A. Reichensperger oder irgend ein anderes Mitglied der
angegriffenen Fraction den Versuch einer Vertheidigung unternimmt, das
kann nur willkommen geheißen werden, weil es auf jeden Fall Belehrung
verspricht. Daß aber Herr A. Reichensperger sich mit seiner Vertheidigung
an die französisch denkende Welt richtet, das muß nothwendig in Deutschland
sehr befremden. Gesetzt, seine französischen Leser sprächen alle Herrn Reichen-
sperger und dessen Partei von den Anklagen seiner deutschen Landsleute frei,
was hat derselbe damit gewonnen? Er hat vielleicht dem Ausland Mittel
geliefert, die dortigen Leidenschaften zu erhitzen, indem das Ausland sich um
so besser einreden kann, daß die in Deutschland zum Sieg gelangte nationale
Richtung durch und durch von einem Geist der Ungerechtigkeit erfüllt sei.
Aber wie merkwürdig! Wessen sieht sich Herr Reichensperger angeklagt?
Man zeiht ihn, daß er und die Seinen nicht national, sondern ultramontan,
ausländisch gesinnt seien. Was thut Herr Reichensperger? Er hält eine
Rede an das Ausland, an das vorzugsweise deutschfeindliche Ausland, darüber,
wie ungerecht er mit den Seinen des Mangels an deutscher Gesinnung be¬
zichtigt werde!

Freilich die Wendung ist nicht nicht neu, daß die Todfeinde Deutsch¬
lands sich für seine wahren, ja für seine einzig verständigen Freunde erklär¬
ten. Wie oft hat das Napoleon I. gethan, und Napoleon III. wollte dasselbe
thun, als die für Deutschland bestimmten Proclamationen ihm in den Kof¬
fern blieben. Das deutschfeindliche Ausland wird gern Herrn Reichensperger
das Zeugniß des besten deutschen Patrioten geben, aber denkt derselbe, daß
er damit in unseren Augen, in den Augen irgend eines unbefangenen Deut¬
schen gereinigt ist? Beweist seine Vertheidigung nicht schon durch das Tri¬
bunal, vor dem er sie führt, daß die Anklage begründet ist? Selbst wenn
Herr Reichensperger in Deutschland nur die Aussicht hätte, ungehört ver¬
dammt zu werden, was wir entschieden verneinen, selbst dann dürfte er nicht
von dem Ausland seine Freisprechung erwirken wollen. Denn wie kann das
Ausland entscheiden, und noch dazu der gegen Deutschland am meisten er¬
bitterte Theil des Auslandes, wer ein guter Deutscher ist, wer nicht? Man
hat die deutschen Ultramontanen beschuldigt, sie hätten einen Sieg der frau-


die nationalen Grenzen hinausführen. Die national gesinnten Deutschen aller
Confessionen stimmten diesen Erklärungen bei. Dabei konnte nicht fehlen,
daß die Stellung der sogenannten Centrumsfraction, ja die bloße Existenz
derselben vielfach einer verwerfenden Kritik verfiel, denn man sagte sich: was
soll eine Partei im Reichstag und welches Recht hat eine Partei zu bestehen,
die nicht einen Weg der nationalen Wohlfahrt. Bildung, Sittlichkeit und
Eintracht verfolgt, sondern die aus der Nation mit ihrer jetzigen Größe und
Kraft ein Mittel für einen ausländischen Zweck macht.

Daß nun Herr A. Reichensperger oder irgend ein anderes Mitglied der
angegriffenen Fraction den Versuch einer Vertheidigung unternimmt, das
kann nur willkommen geheißen werden, weil es auf jeden Fall Belehrung
verspricht. Daß aber Herr A. Reichensperger sich mit seiner Vertheidigung
an die französisch denkende Welt richtet, das muß nothwendig in Deutschland
sehr befremden. Gesetzt, seine französischen Leser sprächen alle Herrn Reichen-
sperger und dessen Partei von den Anklagen seiner deutschen Landsleute frei,
was hat derselbe damit gewonnen? Er hat vielleicht dem Ausland Mittel
geliefert, die dortigen Leidenschaften zu erhitzen, indem das Ausland sich um
so besser einreden kann, daß die in Deutschland zum Sieg gelangte nationale
Richtung durch und durch von einem Geist der Ungerechtigkeit erfüllt sei.
Aber wie merkwürdig! Wessen sieht sich Herr Reichensperger angeklagt?
Man zeiht ihn, daß er und die Seinen nicht national, sondern ultramontan,
ausländisch gesinnt seien. Was thut Herr Reichensperger? Er hält eine
Rede an das Ausland, an das vorzugsweise deutschfeindliche Ausland, darüber,
wie ungerecht er mit den Seinen des Mangels an deutscher Gesinnung be¬
zichtigt werde!

Freilich die Wendung ist nicht nicht neu, daß die Todfeinde Deutsch¬
lands sich für seine wahren, ja für seine einzig verständigen Freunde erklär¬
ten. Wie oft hat das Napoleon I. gethan, und Napoleon III. wollte dasselbe
thun, als die für Deutschland bestimmten Proclamationen ihm in den Kof¬
fern blieben. Das deutschfeindliche Ausland wird gern Herrn Reichensperger
das Zeugniß des besten deutschen Patrioten geben, aber denkt derselbe, daß
er damit in unseren Augen, in den Augen irgend eines unbefangenen Deut¬
schen gereinigt ist? Beweist seine Vertheidigung nicht schon durch das Tri¬
bunal, vor dem er sie führt, daß die Anklage begründet ist? Selbst wenn
Herr Reichensperger in Deutschland nur die Aussicht hätte, ungehört ver¬
dammt zu werden, was wir entschieden verneinen, selbst dann dürfte er nicht
von dem Ausland seine Freisprechung erwirken wollen. Denn wie kann das
Ausland entscheiden, und noch dazu der gegen Deutschland am meisten er¬
bitterte Theil des Auslandes, wer ein guter Deutscher ist, wer nicht? Man
hat die deutschen Ultramontanen beschuldigt, sie hätten einen Sieg der frau-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/85>, abgerufen am 05.02.2025.