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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Wir sind in der Lage, nach zuverlässigster Mittheilung zu berichten, daß,
als der Kaiser Alexander mit tief bewegter Stimme seinen Trinkspruch aus¬
gebracht hatte, der Thronfolger zu seiner Umgebung in französischer Sprache
die vernehmlichen Worte sagte: "Gebe Gott, daß sich dies erfülle."

Bei unbefangener Prüfung ist es leicht, sich zu überzeugen, daß auch die
Worte des Thronfolgers mehr sind, als eine Wendung der Höflichkeit. Ru߬
land hat von Deutschland nicht das Allermindeste zu befürchten, es wäre die
allerungesundeste Politik, die darauf ausginge, uns gewaltsam mit Rußland
zu überwerfen. Warum soll also Rußland bei Deutschlands Macht und
Glück scheel sehen? Dagegen hat Rußland von Deutschlands Freundschaft
stets viel gewonnen und hat beinah noch mehr zu gewinnen. Es ist von
Werth, eine starke Vormauer zu haben, die einen Staat nicht verhindert, in
die Geschicke des Welttheils einzugreifen, weil sie an wichtigen Stellen der
directen Berührung freien Spielraum läßt, die aber den betreffenden Staat
an seiner verwundbarsten Stelle unnahbar macht. Das ist ein Dienst, den
Deutschland Nußland leistet. Es ist noch nicht Alles.

Nußland hat noch eine reiche, nach menschlichem Ermessen auch an Gegen¬
sätzen, Stürmen und Leidenschaften reiche sociale Entwickelung vor sich. Für
ein solches Reich ist die wohlthätigste Nachbarschaft die eines sittlich wohlge¬
ordneten Staates. Die schlechteste Nachbarschaft wäre ein convulsivisch zer¬
rissenes, tief krankes und im Niedergang begriffenes Staatswesen, welches, seine
aus Ueberlebtheit entspringenden Gährungsstvffe in den unreifen Gährungs-
proceß, den das russische Volk noch durchzumachen hat, hineinzuwerfen, die
unmittelbare Berührungssphäre fände. Der Kaiser Alexander hat wohl ge¬
wußt, was er sagte, als er sprach: er sehe in der Waffenbrüderschaft der
Armeen und in der Freundschaft der Herrscher Rußlands und Deutschlands
die beste Bürgschaft für Aufrechthaltung des Friedens und der gesetzlichen
Ordnung in Europa. Auch der Thronfolger wird gewußt haben, als er zu
den väterlichen Worten sein Amen gab, was das Beispiel einer sittlich festen
monarchischen Ordnung im Herzen Europas für Rußland bedeutet. Fan¬
tastisch und beinahe läppisch erscheinen gegen diese einfachen und doch unab¬
weisbaren Erwägungen die Gesichte von einer russisch-französischen Verbrü¬
derung. Was hätte Rußland von Frankreich zu gewinnen? Was wäre
Nußland, wenn es das Unmögliche erreicht hätte, sich mit Frankreich, wie
tolle französische Zukunftspolitiker auszumalen lieben, in Deutschland getheilt
zu haben? Rußland wäre ein ebenso zerrütteter Staat, wie Frankreich, von
dem Tage seines in gewissen Zukunftsträumen ihm beigelegten Sieges an
geworden. In Wahrheit aber würde es sich tödtlich erschöpfen, ehe es diesen
Sieg gewänne. Es würde den Welttheil auf unberechenbare Zeit durch Lösung
aller natürlichen Bündnisse in Unruhe und Verwirrung stürzen. Es würde


Wir sind in der Lage, nach zuverlässigster Mittheilung zu berichten, daß,
als der Kaiser Alexander mit tief bewegter Stimme seinen Trinkspruch aus¬
gebracht hatte, der Thronfolger zu seiner Umgebung in französischer Sprache
die vernehmlichen Worte sagte: „Gebe Gott, daß sich dies erfülle."

Bei unbefangener Prüfung ist es leicht, sich zu überzeugen, daß auch die
Worte des Thronfolgers mehr sind, als eine Wendung der Höflichkeit. Ru߬
land hat von Deutschland nicht das Allermindeste zu befürchten, es wäre die
allerungesundeste Politik, die darauf ausginge, uns gewaltsam mit Rußland
zu überwerfen. Warum soll also Rußland bei Deutschlands Macht und
Glück scheel sehen? Dagegen hat Rußland von Deutschlands Freundschaft
stets viel gewonnen und hat beinah noch mehr zu gewinnen. Es ist von
Werth, eine starke Vormauer zu haben, die einen Staat nicht verhindert, in
die Geschicke des Welttheils einzugreifen, weil sie an wichtigen Stellen der
directen Berührung freien Spielraum läßt, die aber den betreffenden Staat
an seiner verwundbarsten Stelle unnahbar macht. Das ist ein Dienst, den
Deutschland Nußland leistet. Es ist noch nicht Alles.

Nußland hat noch eine reiche, nach menschlichem Ermessen auch an Gegen¬
sätzen, Stürmen und Leidenschaften reiche sociale Entwickelung vor sich. Für
ein solches Reich ist die wohlthätigste Nachbarschaft die eines sittlich wohlge¬
ordneten Staates. Die schlechteste Nachbarschaft wäre ein convulsivisch zer¬
rissenes, tief krankes und im Niedergang begriffenes Staatswesen, welches, seine
aus Ueberlebtheit entspringenden Gährungsstvffe in den unreifen Gährungs-
proceß, den das russische Volk noch durchzumachen hat, hineinzuwerfen, die
unmittelbare Berührungssphäre fände. Der Kaiser Alexander hat wohl ge¬
wußt, was er sagte, als er sprach: er sehe in der Waffenbrüderschaft der
Armeen und in der Freundschaft der Herrscher Rußlands und Deutschlands
die beste Bürgschaft für Aufrechthaltung des Friedens und der gesetzlichen
Ordnung in Europa. Auch der Thronfolger wird gewußt haben, als er zu
den väterlichen Worten sein Amen gab, was das Beispiel einer sittlich festen
monarchischen Ordnung im Herzen Europas für Rußland bedeutet. Fan¬
tastisch und beinahe läppisch erscheinen gegen diese einfachen und doch unab¬
weisbaren Erwägungen die Gesichte von einer russisch-französischen Verbrü¬
derung. Was hätte Rußland von Frankreich zu gewinnen? Was wäre
Nußland, wenn es das Unmögliche erreicht hätte, sich mit Frankreich, wie
tolle französische Zukunftspolitiker auszumalen lieben, in Deutschland getheilt
zu haben? Rußland wäre ein ebenso zerrütteter Staat, wie Frankreich, von
dem Tage seines in gewissen Zukunftsträumen ihm beigelegten Sieges an
geworden. In Wahrheit aber würde es sich tödtlich erschöpfen, ehe es diesen
Sieg gewänne. Es würde den Welttheil auf unberechenbare Zeit durch Lösung
aller natürlichen Bündnisse in Unruhe und Verwirrung stürzen. Es würde


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[0487] Wir sind in der Lage, nach zuverlässigster Mittheilung zu berichten, daß, als der Kaiser Alexander mit tief bewegter Stimme seinen Trinkspruch aus¬ gebracht hatte, der Thronfolger zu seiner Umgebung in französischer Sprache die vernehmlichen Worte sagte: „Gebe Gott, daß sich dies erfülle." Bei unbefangener Prüfung ist es leicht, sich zu überzeugen, daß auch die Worte des Thronfolgers mehr sind, als eine Wendung der Höflichkeit. Ru߬ land hat von Deutschland nicht das Allermindeste zu befürchten, es wäre die allerungesundeste Politik, die darauf ausginge, uns gewaltsam mit Rußland zu überwerfen. Warum soll also Rußland bei Deutschlands Macht und Glück scheel sehen? Dagegen hat Rußland von Deutschlands Freundschaft stets viel gewonnen und hat beinah noch mehr zu gewinnen. Es ist von Werth, eine starke Vormauer zu haben, die einen Staat nicht verhindert, in die Geschicke des Welttheils einzugreifen, weil sie an wichtigen Stellen der directen Berührung freien Spielraum läßt, die aber den betreffenden Staat an seiner verwundbarsten Stelle unnahbar macht. Das ist ein Dienst, den Deutschland Nußland leistet. Es ist noch nicht Alles. Nußland hat noch eine reiche, nach menschlichem Ermessen auch an Gegen¬ sätzen, Stürmen und Leidenschaften reiche sociale Entwickelung vor sich. Für ein solches Reich ist die wohlthätigste Nachbarschaft die eines sittlich wohlge¬ ordneten Staates. Die schlechteste Nachbarschaft wäre ein convulsivisch zer¬ rissenes, tief krankes und im Niedergang begriffenes Staatswesen, welches, seine aus Ueberlebtheit entspringenden Gährungsstvffe in den unreifen Gährungs- proceß, den das russische Volk noch durchzumachen hat, hineinzuwerfen, die unmittelbare Berührungssphäre fände. Der Kaiser Alexander hat wohl ge¬ wußt, was er sagte, als er sprach: er sehe in der Waffenbrüderschaft der Armeen und in der Freundschaft der Herrscher Rußlands und Deutschlands die beste Bürgschaft für Aufrechthaltung des Friedens und der gesetzlichen Ordnung in Europa. Auch der Thronfolger wird gewußt haben, als er zu den väterlichen Worten sein Amen gab, was das Beispiel einer sittlich festen monarchischen Ordnung im Herzen Europas für Rußland bedeutet. Fan¬ tastisch und beinahe läppisch erscheinen gegen diese einfachen und doch unab¬ weisbaren Erwägungen die Gesichte von einer russisch-französischen Verbrü¬ derung. Was hätte Rußland von Frankreich zu gewinnen? Was wäre Nußland, wenn es das Unmögliche erreicht hätte, sich mit Frankreich, wie tolle französische Zukunftspolitiker auszumalen lieben, in Deutschland getheilt zu haben? Rußland wäre ein ebenso zerrütteter Staat, wie Frankreich, von dem Tage seines in gewissen Zukunftsträumen ihm beigelegten Sieges an geworden. In Wahrheit aber würde es sich tödtlich erschöpfen, ehe es diesen Sieg gewänne. Es würde den Welttheil auf unberechenbare Zeit durch Lösung aller natürlichen Bündnisse in Unruhe und Verwirrung stürzen. Es würde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/487>, abgerufen am 05.02.2025.