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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Universitäten im Großen und Ganzen vielfach den Charakter der Zeit ihrer
Gründung beibehalten haben, wo (seit Mitte des Is. Jahrhunderts) auf den
deutschen Universitäten unter kaiserlichen Privilegien Lehrer der kaiserlichen
Rechte, d. h. vorzüglich des römischen Rechtes, angestellt wurden, und das
Institut der Doctoren beider Rechte, des kanonischen und des kaiserlichen, ent¬
stand. Die juristische Unproductivität des germanischen Geistes, sowie die
eminenten Vorzüge des römischen Rechtes, dessen Studium sich gerade die
besten Köpfe zuwendeten, mußten natürlich dem letzteren einen Alles über-
wiegenden Einfluß erringen. Hierzu kam dann der Mangel eines einheitlichen
politischen Gcsammtlebens Deutschlands und ein bis in Napoleon I. Zeit
herein immer schwächer werdendes Nationalgefühl, welche Umstände die Kraft,
sich über das fremde Recht zu erheben, gar nicht aufkommen ließen. Als
dann der deutsche Bund entstanden war, wurde von der "Präsidialmacht"
schon dafür gesorgt, besonders in Ausführung der Carlsbader Beschlüsse
(1819), daß die Studenten nicht zu viel Allotria trieben, besonders
Staatsrecht, und bezüglich der Anstellung von Staatsrechtslehrern eine
scharfe Ueberwachung ausgeübt. Es ist bezeichnend für diesen von Wien
her kommenden lahmlegenden Einfluß, daß noch heute das Staats-
recht an den östreichischen Universitäten nickt unter die "obligaten" Collegien
aufgenommen ist. und aus bester Quelle ist dem Schreiber dieses bekannt, daß,
als Anfang der 60er Jahre eine östreichische Juristenfacultät bei dem "liberalen"
Ministerium Schmerling um Creirung eines Lehrstuyles für "Staatsrecht"
bat, die Erwiderung kam, es wäre alles recht schön, aber hierzu sei kein Geld
da! Statt dessen sind die östreichischen Studenten verpflichtet, zwei Semester
hindurch zu je 4--S Stunden (meistens 5) das "obligate" kanonische Recht
zu hören!!

Wir denken, daß man heute bei dem Hinblicke auf die Jahre 1866 und
1870 zur Ueberzeugung gelangt sein könnte, daß die höchste Gefahr für einen
Staat nicht in der Unterrichtetheit seiner Angehörigen besteht, fondern in der
Unwissenheit. Andererseits aber dürfen wir der begründeten Erwartung leben,
daß derjenige Staat, welcher zu Folge vieljährigen ernsten Studiums und
harter Gedankenarbeit an die Spitze Deutschlands gehoben worden, es durch¬
führen wird, die deutschen Universitäten in derjenigen Weise zu reorganisiren,
welche der ganz neuen Zeit, welche angebrochen ist, sowie den erhöhten und
vielseitigen Anforderungen an den Juristenstand entsprechend ist.




Universitäten im Großen und Ganzen vielfach den Charakter der Zeit ihrer
Gründung beibehalten haben, wo (seit Mitte des Is. Jahrhunderts) auf den
deutschen Universitäten unter kaiserlichen Privilegien Lehrer der kaiserlichen
Rechte, d. h. vorzüglich des römischen Rechtes, angestellt wurden, und das
Institut der Doctoren beider Rechte, des kanonischen und des kaiserlichen, ent¬
stand. Die juristische Unproductivität des germanischen Geistes, sowie die
eminenten Vorzüge des römischen Rechtes, dessen Studium sich gerade die
besten Köpfe zuwendeten, mußten natürlich dem letzteren einen Alles über-
wiegenden Einfluß erringen. Hierzu kam dann der Mangel eines einheitlichen
politischen Gcsammtlebens Deutschlands und ein bis in Napoleon I. Zeit
herein immer schwächer werdendes Nationalgefühl, welche Umstände die Kraft,
sich über das fremde Recht zu erheben, gar nicht aufkommen ließen. Als
dann der deutsche Bund entstanden war, wurde von der „Präsidialmacht"
schon dafür gesorgt, besonders in Ausführung der Carlsbader Beschlüsse
(1819), daß die Studenten nicht zu viel Allotria trieben, besonders
Staatsrecht, und bezüglich der Anstellung von Staatsrechtslehrern eine
scharfe Ueberwachung ausgeübt. Es ist bezeichnend für diesen von Wien
her kommenden lahmlegenden Einfluß, daß noch heute das Staats-
recht an den östreichischen Universitäten nickt unter die „obligaten" Collegien
aufgenommen ist. und aus bester Quelle ist dem Schreiber dieses bekannt, daß,
als Anfang der 60er Jahre eine östreichische Juristenfacultät bei dem „liberalen"
Ministerium Schmerling um Creirung eines Lehrstuyles für „Staatsrecht"
bat, die Erwiderung kam, es wäre alles recht schön, aber hierzu sei kein Geld
da! Statt dessen sind die östreichischen Studenten verpflichtet, zwei Semester
hindurch zu je 4—S Stunden (meistens 5) das „obligate" kanonische Recht
zu hören!!

Wir denken, daß man heute bei dem Hinblicke auf die Jahre 1866 und
1870 zur Ueberzeugung gelangt sein könnte, daß die höchste Gefahr für einen
Staat nicht in der Unterrichtetheit seiner Angehörigen besteht, fondern in der
Unwissenheit. Andererseits aber dürfen wir der begründeten Erwartung leben,
daß derjenige Staat, welcher zu Folge vieljährigen ernsten Studiums und
harter Gedankenarbeit an die Spitze Deutschlands gehoben worden, es durch¬
führen wird, die deutschen Universitäten in derjenigen Weise zu reorganisiren,
welche der ganz neuen Zeit, welche angebrochen ist, sowie den erhöhten und
vielseitigen Anforderungen an den Juristenstand entsprechend ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/476>, abgerufen am 05.02.2025.