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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Rössel hoffen, diese friedliche Stimmung der Häupter der Commune durch
seinen Einfluß zu ändern? Gewiß nicht. Er mußte wissen, daß die Ziele
und Wege derselben ganz andere waren. Gerade weil er ein intelligenter und
bis zu einem gewissen Grade weitblickender Geist war, mußte ihm weit weniger
als der Mehrzahl derer, zu deren Genossen er sich gemacht, verborgen sein,
wohin das Unternehmen vom 18. März führen mußte: er konnte am Ziele
desselben einen allgemeinen Bürgerkrieg, einen allgemeinen Aufstand des Pö¬
bels gegen die Besitzenden sehen, nimmermehr aber eine vom Standpunkte des
Franzosen ehrenvolle oder gar eine erfolgreiche Wiederaufnahme des Kampfes
mit dem ausländischen Sieger.

Daß der Ingrimm über die Niederlage Frankreichs in gewissem Maße
Einfluß auf sein Verhalten gehabt, daß diese stolze Natur die Kümmernisse
und Schmerzen des besiegten Vaterlandes und den Verdruß über die Ent¬
täuschungen seines eigenen ehrgeizigen Strebens in ein Gefühl verschmolzen,
ist möglich. Aber durfte man auch diesen Zustand sittlicher Verwirrung als
Erklärung eines einmaligen falschen Schrittes, einer ersten unbesonnenen Zu¬
stimmung zu der That des 18. März zulassen, so kann man keinenfalls den¬
selben als Entschuldigung dafür anführen, daß Rössel sechs ganze Wochen
hindurch seine eifrige Mitwirkung einem wahnwitzigen und ruchlosen Treiben
geliehen hat, welches keinen anderen Zweck als Mord und Zerstörung hatte,
und keinen anderen Ausgang als eine nationale Katastrophe der entsetzlichsten
Art haben konnte, wenn es zum Gelingen der Pläne der Insurgenten kam.

Wenn wir an Rössel ein mit Wehmuth gemischtes Interesse empfinden,
so ist dies nicht durch die Versuche seiner Vertheidiger in der französischen
Presse hervorgerufen, seine Schuld abzuschwächen. Unzweifelhaft weniger
schuldig, weil weniger intelligent und weniger gebildet, war der Sergeant
Bourgeois, der demselben Gesetze verfiel und in derselben Stunde büßte, wie
er. Kein Mensch in Frankreich hat über die Hinrichtung des Sergeanten ge¬
klagt, ihn weißzuwaschen versucht, ihm publicistische Immortellenkränze auf
das Grab gelegt. Warum nicht? Die "France" antwortet in dem von uns
citirten Artikel ganz richtig hierauf:

"Weil bei uns in Frankreich der Umstand, daß ein Verbrechen recht stark
von sich reden macht, für das Publicum zum hauptsächlichen Milderungs¬
grund werden will," mit anderen Worten, weil diesem Publicum der Eclat,
der romantische Nimbus, mit dem ein Verbrecher sich umgibt, so imponirt,
daß die Schuld desselben darüber, wo nicht vergessen wird, so doch leichter er¬
scheint. "Die Einbildungskraft der Leute", so sagt das Blatt weiter, "be¬
findet sich in einem kränkelnden Zustande, der ihr die Dinge nur von den
Seiten sehen läßt, welche sie verblenden. Sie interessirt sich leidenschaftlich
für Aeußerlichkeiten bis zu dem Grade, daß sie darüber Blick und Urtheil für


Rössel hoffen, diese friedliche Stimmung der Häupter der Commune durch
seinen Einfluß zu ändern? Gewiß nicht. Er mußte wissen, daß die Ziele
und Wege derselben ganz andere waren. Gerade weil er ein intelligenter und
bis zu einem gewissen Grade weitblickender Geist war, mußte ihm weit weniger
als der Mehrzahl derer, zu deren Genossen er sich gemacht, verborgen sein,
wohin das Unternehmen vom 18. März führen mußte: er konnte am Ziele
desselben einen allgemeinen Bürgerkrieg, einen allgemeinen Aufstand des Pö¬
bels gegen die Besitzenden sehen, nimmermehr aber eine vom Standpunkte des
Franzosen ehrenvolle oder gar eine erfolgreiche Wiederaufnahme des Kampfes
mit dem ausländischen Sieger.

Daß der Ingrimm über die Niederlage Frankreichs in gewissem Maße
Einfluß auf sein Verhalten gehabt, daß diese stolze Natur die Kümmernisse
und Schmerzen des besiegten Vaterlandes und den Verdruß über die Ent¬
täuschungen seines eigenen ehrgeizigen Strebens in ein Gefühl verschmolzen,
ist möglich. Aber durfte man auch diesen Zustand sittlicher Verwirrung als
Erklärung eines einmaligen falschen Schrittes, einer ersten unbesonnenen Zu¬
stimmung zu der That des 18. März zulassen, so kann man keinenfalls den¬
selben als Entschuldigung dafür anführen, daß Rössel sechs ganze Wochen
hindurch seine eifrige Mitwirkung einem wahnwitzigen und ruchlosen Treiben
geliehen hat, welches keinen anderen Zweck als Mord und Zerstörung hatte,
und keinen anderen Ausgang als eine nationale Katastrophe der entsetzlichsten
Art haben konnte, wenn es zum Gelingen der Pläne der Insurgenten kam.

Wenn wir an Rössel ein mit Wehmuth gemischtes Interesse empfinden,
so ist dies nicht durch die Versuche seiner Vertheidiger in der französischen
Presse hervorgerufen, seine Schuld abzuschwächen. Unzweifelhaft weniger
schuldig, weil weniger intelligent und weniger gebildet, war der Sergeant
Bourgeois, der demselben Gesetze verfiel und in derselben Stunde büßte, wie
er. Kein Mensch in Frankreich hat über die Hinrichtung des Sergeanten ge¬
klagt, ihn weißzuwaschen versucht, ihm publicistische Immortellenkränze auf
das Grab gelegt. Warum nicht? Die „France" antwortet in dem von uns
citirten Artikel ganz richtig hierauf:

„Weil bei uns in Frankreich der Umstand, daß ein Verbrechen recht stark
von sich reden macht, für das Publicum zum hauptsächlichen Milderungs¬
grund werden will," mit anderen Worten, weil diesem Publicum der Eclat,
der romantische Nimbus, mit dem ein Verbrecher sich umgibt, so imponirt,
daß die Schuld desselben darüber, wo nicht vergessen wird, so doch leichter er¬
scheint. „Die Einbildungskraft der Leute", so sagt das Blatt weiter, „be¬
findet sich in einem kränkelnden Zustande, der ihr die Dinge nur von den
Seiten sehen läßt, welche sie verblenden. Sie interessirt sich leidenschaftlich
für Aeußerlichkeiten bis zu dem Grade, daß sie darüber Blick und Urtheil für


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[0416] Rössel hoffen, diese friedliche Stimmung der Häupter der Commune durch seinen Einfluß zu ändern? Gewiß nicht. Er mußte wissen, daß die Ziele und Wege derselben ganz andere waren. Gerade weil er ein intelligenter und bis zu einem gewissen Grade weitblickender Geist war, mußte ihm weit weniger als der Mehrzahl derer, zu deren Genossen er sich gemacht, verborgen sein, wohin das Unternehmen vom 18. März führen mußte: er konnte am Ziele desselben einen allgemeinen Bürgerkrieg, einen allgemeinen Aufstand des Pö¬ bels gegen die Besitzenden sehen, nimmermehr aber eine vom Standpunkte des Franzosen ehrenvolle oder gar eine erfolgreiche Wiederaufnahme des Kampfes mit dem ausländischen Sieger. Daß der Ingrimm über die Niederlage Frankreichs in gewissem Maße Einfluß auf sein Verhalten gehabt, daß diese stolze Natur die Kümmernisse und Schmerzen des besiegten Vaterlandes und den Verdruß über die Ent¬ täuschungen seines eigenen ehrgeizigen Strebens in ein Gefühl verschmolzen, ist möglich. Aber durfte man auch diesen Zustand sittlicher Verwirrung als Erklärung eines einmaligen falschen Schrittes, einer ersten unbesonnenen Zu¬ stimmung zu der That des 18. März zulassen, so kann man keinenfalls den¬ selben als Entschuldigung dafür anführen, daß Rössel sechs ganze Wochen hindurch seine eifrige Mitwirkung einem wahnwitzigen und ruchlosen Treiben geliehen hat, welches keinen anderen Zweck als Mord und Zerstörung hatte, und keinen anderen Ausgang als eine nationale Katastrophe der entsetzlichsten Art haben konnte, wenn es zum Gelingen der Pläne der Insurgenten kam. Wenn wir an Rössel ein mit Wehmuth gemischtes Interesse empfinden, so ist dies nicht durch die Versuche seiner Vertheidiger in der französischen Presse hervorgerufen, seine Schuld abzuschwächen. Unzweifelhaft weniger schuldig, weil weniger intelligent und weniger gebildet, war der Sergeant Bourgeois, der demselben Gesetze verfiel und in derselben Stunde büßte, wie er. Kein Mensch in Frankreich hat über die Hinrichtung des Sergeanten ge¬ klagt, ihn weißzuwaschen versucht, ihm publicistische Immortellenkränze auf das Grab gelegt. Warum nicht? Die „France" antwortet in dem von uns citirten Artikel ganz richtig hierauf: „Weil bei uns in Frankreich der Umstand, daß ein Verbrechen recht stark von sich reden macht, für das Publicum zum hauptsächlichen Milderungs¬ grund werden will," mit anderen Worten, weil diesem Publicum der Eclat, der romantische Nimbus, mit dem ein Verbrecher sich umgibt, so imponirt, daß die Schuld desselben darüber, wo nicht vergessen wird, so doch leichter er¬ scheint. „Die Einbildungskraft der Leute", so sagt das Blatt weiter, „be¬ findet sich in einem kränkelnden Zustande, der ihr die Dinge nur von den Seiten sehen läßt, welche sie verblenden. Sie interessirt sich leidenschaftlich für Aeußerlichkeiten bis zu dem Grade, daß sie darüber Blick und Urtheil für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/416>, abgerufen am 06.02.2025.