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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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hätte das deutsche Reich auskommen können gegenüber etwaigen Ausschreitungen
der Geistlichen: so behaupten die Gegner der Vorlage, namentlich die päpst-
lichen Gegner. Der eingefügte Artikel aber sei ein Ausnahmegesetz, gehässig
dem Zwecke nach, unjuristisch der Form nach.

Was besagt denn nun der neue Artikel? Er lautete in seiner ursprüng¬
lichen Fassung dahin, daß ein Geistlicher oder ein anderer Religionsdiener,
welcher in Ausübung seines Berufes öffentlich Angelegenheiten des Staates
zum Gegenstand einer Verkündigung oder Erörterung macht, welche den
öffentlichen Frieden zu stören geeignet erscheint, dadurch straffällig wird. Um
dies gleich zu sagen: im Wesentlichen ist der Artikel so genehmigt worden.
Die vom Reichstag beschlossene Veränderung besteht nur darin, daß die Worte:
"welche den öffentlichen Frieden zu stören geeignet erscheint;" ersetzt sind durch
die Worte: "welche den öffentlichen Frieden gefährdet;" worin man vielleicht
eine Verbesserung finden kann.

Welches ist denn nun die unterscheidende Bedeutung dieses neuen Para¬
graphen, der mit 130" bezeichnet ist, von seinem Vorgänger, der die Anreizung
zur Gewaltthätigkeit, und von seinem Nachfolger, der die Erdichtung und
Entstellung von Thatsachen zur Verächtlichmachung des Staates und der Re¬
gierung verpönt? Dieses ist der Unterschied. Die beiden Nachbarparagraphen
verpönen, der eine die unmittelbare Aufforderung zu einer Klasse von gesetz¬
widrigen Handlungen, der andere die Erzeugung einer Gesinnung, aus welcher
solche Handlungen folgen, durch ein offenbar wahrheitswidriges Mittel. Der
neue Paragraph verpönt die mittelbare Erzeugung gesetzwidriger Handlungen
von der Kanzel herab, ohne nähere Bezeichnung des Erzeugungsmittels, als
die der Erörterung und Verkündigung. Das eigentliche Mittel aber, dessen
sich die Kanzel zur Erzeugung solcher Handlungen bedient, besteht darin, daß
sie das Staatsgesetz als im unheilbaren Widerspruch darstellt mit der im
Glauben der Gemeinde lebenden Autorität des göttlichen Gesetzes. Darf der
Staat sich den Gehorsam gegen seine Gesetze untergraben lassen durch die Be¬
hauptung ihrer Unvereinbarkeit mit praktischen Einrichtungen, die angeblich
das unmittelbare Werk des göttlichen Willens sind? Hier liegt die Frage-

Die ängstliche Doctrin, die sich an ihre sogenannten Principien klammert,
weiß sich keinen Rath, als die Frage zu bejahen, obschon ihr unwohl dabei
zu Muthe wird. Aber, klagt sie, was wird sonst aus der Lehrfreiheit und
selbst aus der Denkfreiheit? Die Herren Doctrinäre sind wieder einmal
schwach im Unterscheiden. Bevor wir den Unterschied angeben, um den es
sich Handelt, sei uns gestattet, zu sagen, daß wir auf das Innigste durch'
drungen sind von dem allrichtenden Beruf der Theorie. Wenn wir vom Dok¬
trinarismus im tadelnden Sinne sprechen, so verstehen wir darunter die scla¬
vische Abhängigkeit schwacher Geister von ^entwickelungsfähigen Lehrmeinun-


hätte das deutsche Reich auskommen können gegenüber etwaigen Ausschreitungen
der Geistlichen: so behaupten die Gegner der Vorlage, namentlich die päpst-
lichen Gegner. Der eingefügte Artikel aber sei ein Ausnahmegesetz, gehässig
dem Zwecke nach, unjuristisch der Form nach.

Was besagt denn nun der neue Artikel? Er lautete in seiner ursprüng¬
lichen Fassung dahin, daß ein Geistlicher oder ein anderer Religionsdiener,
welcher in Ausübung seines Berufes öffentlich Angelegenheiten des Staates
zum Gegenstand einer Verkündigung oder Erörterung macht, welche den
öffentlichen Frieden zu stören geeignet erscheint, dadurch straffällig wird. Um
dies gleich zu sagen: im Wesentlichen ist der Artikel so genehmigt worden.
Die vom Reichstag beschlossene Veränderung besteht nur darin, daß die Worte:
„welche den öffentlichen Frieden zu stören geeignet erscheint;" ersetzt sind durch
die Worte: „welche den öffentlichen Frieden gefährdet;" worin man vielleicht
eine Verbesserung finden kann.

Welches ist denn nun die unterscheidende Bedeutung dieses neuen Para¬
graphen, der mit 130» bezeichnet ist, von seinem Vorgänger, der die Anreizung
zur Gewaltthätigkeit, und von seinem Nachfolger, der die Erdichtung und
Entstellung von Thatsachen zur Verächtlichmachung des Staates und der Re¬
gierung verpönt? Dieses ist der Unterschied. Die beiden Nachbarparagraphen
verpönen, der eine die unmittelbare Aufforderung zu einer Klasse von gesetz¬
widrigen Handlungen, der andere die Erzeugung einer Gesinnung, aus welcher
solche Handlungen folgen, durch ein offenbar wahrheitswidriges Mittel. Der
neue Paragraph verpönt die mittelbare Erzeugung gesetzwidriger Handlungen
von der Kanzel herab, ohne nähere Bezeichnung des Erzeugungsmittels, als
die der Erörterung und Verkündigung. Das eigentliche Mittel aber, dessen
sich die Kanzel zur Erzeugung solcher Handlungen bedient, besteht darin, daß
sie das Staatsgesetz als im unheilbaren Widerspruch darstellt mit der im
Glauben der Gemeinde lebenden Autorität des göttlichen Gesetzes. Darf der
Staat sich den Gehorsam gegen seine Gesetze untergraben lassen durch die Be¬
hauptung ihrer Unvereinbarkeit mit praktischen Einrichtungen, die angeblich
das unmittelbare Werk des göttlichen Willens sind? Hier liegt die Frage-

Die ängstliche Doctrin, die sich an ihre sogenannten Principien klammert,
weiß sich keinen Rath, als die Frage zu bejahen, obschon ihr unwohl dabei
zu Muthe wird. Aber, klagt sie, was wird sonst aus der Lehrfreiheit und
selbst aus der Denkfreiheit? Die Herren Doctrinäre sind wieder einmal
schwach im Unterscheiden. Bevor wir den Unterschied angeben, um den es
sich Handelt, sei uns gestattet, zu sagen, daß wir auf das Innigste durch'
drungen sind von dem allrichtenden Beruf der Theorie. Wenn wir vom Dok¬
trinarismus im tadelnden Sinne sprechen, so verstehen wir darunter die scla¬
vische Abhängigkeit schwacher Geister von ^entwickelungsfähigen Lehrmeinun-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/402>, abgerufen am 06.02.2025.