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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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lich hat unser Jahrhundert die lebhaftesten Kampfe in England um das
Wahlrecht zum Parlamente erlebt: mit der Reformbill von 1832 haben die
demokratischen Ideen der Neuzeit die erste Bresche in den parlamentarischen
Staatsbäu geschlagen; und das Gesetz von 1867, nach wiederholten Anläufen
endlich durch die in ihren Motiven heute wohl noch nicht ganz aufgeklärte
Schwenkung der Tories unter Disraeli's Führung zu Stande gebracht, ist ein
weiterer Schritt auf jener früher beschrittenen Bahn. Die Bedeutung dieser
Reformmaßregeln erörtert präcis und deutlich die genannte kleine Schrift von
Koller, in principieller Anlehnung an das Urtheil und die Darstellung von
Gneist. Zunächst geht er davon aus, daß die englische Verfassung vor 1832
nichts anderes gewesen ist als eine Regierung des Landes durch eine nicht
allzugroße Anzahl von Familien der grundbesitzenden Aristokratie, die das
Oberhaus und Unterhaus anfüllten und beherrschten. Die Maßregel von
1832 hat dies nicht vollständig oder systematisch anders gemacht, aber doch
schon etwas modificirt. Das politische Princip in England ist dies: politische
Rechte sind nur ein Aequivalent politischer Pflichten, und die Aristokratie,
welche die politischen Rechte zum größten Theile für sich absorbirt hat, ist
es auch, welche die größten Leistungen für den Staat aufbringt.

In den politischen Anschauungen des Continentes dagegen gilt es als
Axiom, daß alle Menschen gleiche Rechte haben müssen; von angeborenen
politischen Menschenrechten, die dem Einzelindividuum ganz unabhängig von
seinen Leistungen verliehen sind, geht das continentale Verlangen aus. 1832
ist dies in England noch durchaus nicht sanctionirt worden, aber 1867 hat
man in bedenklichster Weise sich ihm schon genähert: der Grundsatz des all¬
gemeinen Stimmrechtes scheint jetzt in der That gewonnen zu sein, wenn auch
einzelne, allerdings nicht besonders kräftige Schranken dagegen noch bestehen-
Wird sich mit einem aus solchen Wahlen hervorgegangenen Körper eine
parlamentarische Regierung führen lassen, in welcher eben das Parlament die
eigentliche Negierungsmacht, den wirklichen Souverain bildet? Die Bedenken
und Zweifel hat Koller bezeichnet und kurz erläutert.

Wir meinen, ein unbefangener Zuschauer kann heute noch weitere Symp¬
tome geltend machen. . Die Ausdehnung des Stimmrechtes auf,das weibliche
Geschlecht ist eine logische Consequenz, zu welcher der Gang dieser demokra¬
tischen Bewegung hindrängt und zweifellos hinführen wird. -- wenn nicht
noch vorher Einhalt geschieht. Die Abschaffung des Oberhauses steht auf der
nächsten Tagesordnung: was dagegen einzuwenden ist, fällt auf dieser prin¬
cipiellen Basis gar nicht mehr ins Gewicht. Wie aber eine so völlig denw-
kratisirte Volksvertretung die Negierung wird führen können in der durch'
schlagenden Weise des bisherigen Parlamentes, das kann Niemand heute
sehen. Ob vor der Krone die Bewegung wird stillstehen wollen, das Mg


lich hat unser Jahrhundert die lebhaftesten Kampfe in England um das
Wahlrecht zum Parlamente erlebt: mit der Reformbill von 1832 haben die
demokratischen Ideen der Neuzeit die erste Bresche in den parlamentarischen
Staatsbäu geschlagen; und das Gesetz von 1867, nach wiederholten Anläufen
endlich durch die in ihren Motiven heute wohl noch nicht ganz aufgeklärte
Schwenkung der Tories unter Disraeli's Führung zu Stande gebracht, ist ein
weiterer Schritt auf jener früher beschrittenen Bahn. Die Bedeutung dieser
Reformmaßregeln erörtert präcis und deutlich die genannte kleine Schrift von
Koller, in principieller Anlehnung an das Urtheil und die Darstellung von
Gneist. Zunächst geht er davon aus, daß die englische Verfassung vor 1832
nichts anderes gewesen ist als eine Regierung des Landes durch eine nicht
allzugroße Anzahl von Familien der grundbesitzenden Aristokratie, die das
Oberhaus und Unterhaus anfüllten und beherrschten. Die Maßregel von
1832 hat dies nicht vollständig oder systematisch anders gemacht, aber doch
schon etwas modificirt. Das politische Princip in England ist dies: politische
Rechte sind nur ein Aequivalent politischer Pflichten, und die Aristokratie,
welche die politischen Rechte zum größten Theile für sich absorbirt hat, ist
es auch, welche die größten Leistungen für den Staat aufbringt.

In den politischen Anschauungen des Continentes dagegen gilt es als
Axiom, daß alle Menschen gleiche Rechte haben müssen; von angeborenen
politischen Menschenrechten, die dem Einzelindividuum ganz unabhängig von
seinen Leistungen verliehen sind, geht das continentale Verlangen aus. 1832
ist dies in England noch durchaus nicht sanctionirt worden, aber 1867 hat
man in bedenklichster Weise sich ihm schon genähert: der Grundsatz des all¬
gemeinen Stimmrechtes scheint jetzt in der That gewonnen zu sein, wenn auch
einzelne, allerdings nicht besonders kräftige Schranken dagegen noch bestehen-
Wird sich mit einem aus solchen Wahlen hervorgegangenen Körper eine
parlamentarische Regierung führen lassen, in welcher eben das Parlament die
eigentliche Negierungsmacht, den wirklichen Souverain bildet? Die Bedenken
und Zweifel hat Koller bezeichnet und kurz erläutert.

Wir meinen, ein unbefangener Zuschauer kann heute noch weitere Symp¬
tome geltend machen. . Die Ausdehnung des Stimmrechtes auf,das weibliche
Geschlecht ist eine logische Consequenz, zu welcher der Gang dieser demokra¬
tischen Bewegung hindrängt und zweifellos hinführen wird. — wenn nicht
noch vorher Einhalt geschieht. Die Abschaffung des Oberhauses steht auf der
nächsten Tagesordnung: was dagegen einzuwenden ist, fällt auf dieser prin¬
cipiellen Basis gar nicht mehr ins Gewicht. Wie aber eine so völlig denw-
kratisirte Volksvertretung die Negierung wird führen können in der durch'
schlagenden Weise des bisherigen Parlamentes, das kann Niemand heute
sehen. Ob vor der Krone die Bewegung wird stillstehen wollen, das Mg


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/350>, abgerufen am 05.02.2025.