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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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zu, wie gewisse hysterische Nonnen nach durchaus nicht blos geistiger Ver¬
schmelzung mit ihrem Bräutigam Christus sich sehnten, wofür sie sehr häßliche
Beispiele anführen ließen.

Der Mormonenpapst hat nicht nur die Macht, Lebende auf deren Wunsch
Todten, sondern auch die, Todten auf deren Wunsch Lebende zu vermählen.
"Der Aelteste Stenhouse", so lesen wir bei Dixon, "erzählte mir, daß er eine
todte Frau habe, welche ihm auf ihr dringendes Verlangen nach ihrem Ab¬
leben angesiegelt worden war. Er hatte die junge Dame im Leben gut ge¬
kannt, er beschreibt sie als schön und liebenswürdig, und wäre sie am Leben
geblieben, so würde er ihr, wie er sagte, mit der Zeit den Antrag gemacht
haben, seine Frau zu werden. Als er auf einer Missionsreise von der Salz¬
seestadt entfernt war, erkrankte sie und starb. Auf ihrem Todtenbette aber
drückte sie den lebhaften Wunsch aus, ihm für die Ewigkeit als Gattin bei¬
gesellt zu werden. Uoung hatte dagegen nichts einzuwenden, und als Stenhouse
nach dem Salzsee zurückkehrte, wurde die Trauungsceremonie im Beisein von
Bruder Brigham und Andern feierlich vollzogen. Stenhouses erste Frau
stand als Stellvertreterin für das todte Mädchen sowohl am Altare als --
späterhin ein.

Vieles, was im Vorhergehenden von den Glaubenssätzen und Bräuchen
der Mormonen mitgetheilt wurde, kann in einiger Zeit nicht mehr Glaube
und nicht mehr Brauch bei ihnen sein. Wie angedeutet, ist ihre Religion,
ihre Ethik, ihr ganzes Vorstellungsgebiet in stetem Fluß, steter Verwandlung
begriffen, eine stete Anbequemung an das Gelüsten der Führer und an die
Umstände. Der Herr offenbart fast mit jedem Jahre Neues, und bisweilen
ist nach der jüngsten Offenbarung das Gegentheil von dem wahr und gut,
was nach der zunächst vorhergehenden unwahr und ungerecht war. Was
heute nur erlaubt ist, kann morgen ein Gebot und übermorgen ein Verbot
sein, wenn die Verhältnisse dieß rathscnn erscheinen lassen. Selbst die Viel¬
weiberei, so sehr sie in Deseret um sich gegriffen hat, und so schwer sie infolge
dessen auf gütlichem Wege rasch zu beseitigen wäre, könnte in Anbetracht ver¬
änderter Zeiten von Jehova wieder ausgehoben werden, und die Dogmatiker
der Secte würden nicht in Verlegenheit sein, die Sache zu rechtfertigen. Zwei
Punkte indeß stehen bei ihnen fest: der Glaubenssatz, nach welchem sie sich
Latterday-Saints nennen, und ihre theokratische Verfassung, Sie sind eine
chiliastische Secte, und sie verschmelzen in ihrer Organisation das weltliche
Element durchweg mit dem geistlichen.

Wir betrachten hier nur den Chiliasmus der Mormonen. Sie wissen,
daß sie den Grundstock des heiligen Volkes bilden werden, über welches der
Herr "in diesen letzten Tagen" nach seiner Wiederkunft herrschen, mit dem er
das tausendjährige Reich gründen wird. Ist nun die Zeit erfüllet, d. h. ist


zu, wie gewisse hysterische Nonnen nach durchaus nicht blos geistiger Ver¬
schmelzung mit ihrem Bräutigam Christus sich sehnten, wofür sie sehr häßliche
Beispiele anführen ließen.

Der Mormonenpapst hat nicht nur die Macht, Lebende auf deren Wunsch
Todten, sondern auch die, Todten auf deren Wunsch Lebende zu vermählen.
„Der Aelteste Stenhouse", so lesen wir bei Dixon, „erzählte mir, daß er eine
todte Frau habe, welche ihm auf ihr dringendes Verlangen nach ihrem Ab¬
leben angesiegelt worden war. Er hatte die junge Dame im Leben gut ge¬
kannt, er beschreibt sie als schön und liebenswürdig, und wäre sie am Leben
geblieben, so würde er ihr, wie er sagte, mit der Zeit den Antrag gemacht
haben, seine Frau zu werden. Als er auf einer Missionsreise von der Salz¬
seestadt entfernt war, erkrankte sie und starb. Auf ihrem Todtenbette aber
drückte sie den lebhaften Wunsch aus, ihm für die Ewigkeit als Gattin bei¬
gesellt zu werden. Uoung hatte dagegen nichts einzuwenden, und als Stenhouse
nach dem Salzsee zurückkehrte, wurde die Trauungsceremonie im Beisein von
Bruder Brigham und Andern feierlich vollzogen. Stenhouses erste Frau
stand als Stellvertreterin für das todte Mädchen sowohl am Altare als —
späterhin ein.

Vieles, was im Vorhergehenden von den Glaubenssätzen und Bräuchen
der Mormonen mitgetheilt wurde, kann in einiger Zeit nicht mehr Glaube
und nicht mehr Brauch bei ihnen sein. Wie angedeutet, ist ihre Religion,
ihre Ethik, ihr ganzes Vorstellungsgebiet in stetem Fluß, steter Verwandlung
begriffen, eine stete Anbequemung an das Gelüsten der Führer und an die
Umstände. Der Herr offenbart fast mit jedem Jahre Neues, und bisweilen
ist nach der jüngsten Offenbarung das Gegentheil von dem wahr und gut,
was nach der zunächst vorhergehenden unwahr und ungerecht war. Was
heute nur erlaubt ist, kann morgen ein Gebot und übermorgen ein Verbot
sein, wenn die Verhältnisse dieß rathscnn erscheinen lassen. Selbst die Viel¬
weiberei, so sehr sie in Deseret um sich gegriffen hat, und so schwer sie infolge
dessen auf gütlichem Wege rasch zu beseitigen wäre, könnte in Anbetracht ver¬
änderter Zeiten von Jehova wieder ausgehoben werden, und die Dogmatiker
der Secte würden nicht in Verlegenheit sein, die Sache zu rechtfertigen. Zwei
Punkte indeß stehen bei ihnen fest: der Glaubenssatz, nach welchem sie sich
Latterday-Saints nennen, und ihre theokratische Verfassung, Sie sind eine
chiliastische Secte, und sie verschmelzen in ihrer Organisation das weltliche
Element durchweg mit dem geistlichen.

Wir betrachten hier nur den Chiliasmus der Mormonen. Sie wissen,
daß sie den Grundstock des heiligen Volkes bilden werden, über welches der
Herr „in diesen letzten Tagen" nach seiner Wiederkunft herrschen, mit dem er
das tausendjährige Reich gründen wird. Ist nun die Zeit erfüllet, d. h. ist


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[0340] zu, wie gewisse hysterische Nonnen nach durchaus nicht blos geistiger Ver¬ schmelzung mit ihrem Bräutigam Christus sich sehnten, wofür sie sehr häßliche Beispiele anführen ließen. Der Mormonenpapst hat nicht nur die Macht, Lebende auf deren Wunsch Todten, sondern auch die, Todten auf deren Wunsch Lebende zu vermählen. „Der Aelteste Stenhouse", so lesen wir bei Dixon, „erzählte mir, daß er eine todte Frau habe, welche ihm auf ihr dringendes Verlangen nach ihrem Ab¬ leben angesiegelt worden war. Er hatte die junge Dame im Leben gut ge¬ kannt, er beschreibt sie als schön und liebenswürdig, und wäre sie am Leben geblieben, so würde er ihr, wie er sagte, mit der Zeit den Antrag gemacht haben, seine Frau zu werden. Als er auf einer Missionsreise von der Salz¬ seestadt entfernt war, erkrankte sie und starb. Auf ihrem Todtenbette aber drückte sie den lebhaften Wunsch aus, ihm für die Ewigkeit als Gattin bei¬ gesellt zu werden. Uoung hatte dagegen nichts einzuwenden, und als Stenhouse nach dem Salzsee zurückkehrte, wurde die Trauungsceremonie im Beisein von Bruder Brigham und Andern feierlich vollzogen. Stenhouses erste Frau stand als Stellvertreterin für das todte Mädchen sowohl am Altare als — späterhin ein. Vieles, was im Vorhergehenden von den Glaubenssätzen und Bräuchen der Mormonen mitgetheilt wurde, kann in einiger Zeit nicht mehr Glaube und nicht mehr Brauch bei ihnen sein. Wie angedeutet, ist ihre Religion, ihre Ethik, ihr ganzes Vorstellungsgebiet in stetem Fluß, steter Verwandlung begriffen, eine stete Anbequemung an das Gelüsten der Führer und an die Umstände. Der Herr offenbart fast mit jedem Jahre Neues, und bisweilen ist nach der jüngsten Offenbarung das Gegentheil von dem wahr und gut, was nach der zunächst vorhergehenden unwahr und ungerecht war. Was heute nur erlaubt ist, kann morgen ein Gebot und übermorgen ein Verbot sein, wenn die Verhältnisse dieß rathscnn erscheinen lassen. Selbst die Viel¬ weiberei, so sehr sie in Deseret um sich gegriffen hat, und so schwer sie infolge dessen auf gütlichem Wege rasch zu beseitigen wäre, könnte in Anbetracht ver¬ änderter Zeiten von Jehova wieder ausgehoben werden, und die Dogmatiker der Secte würden nicht in Verlegenheit sein, die Sache zu rechtfertigen. Zwei Punkte indeß stehen bei ihnen fest: der Glaubenssatz, nach welchem sie sich Latterday-Saints nennen, und ihre theokratische Verfassung, Sie sind eine chiliastische Secte, und sie verschmelzen in ihrer Organisation das weltliche Element durchweg mit dem geistlichen. Wir betrachten hier nur den Chiliasmus der Mormonen. Sie wissen, daß sie den Grundstock des heiligen Volkes bilden werden, über welches der Herr „in diesen letzten Tagen" nach seiner Wiederkunft herrschen, mit dem er das tausendjährige Reich gründen wird. Ist nun die Zeit erfüllet, d. h. ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/340>, abgerufen am 06.02.2025.