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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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gestern Abend geleert und sich betrunken. Der Mensch, dem Sie gestern
Nacht begegneten, wandelte nicht im Schlafe, sondern war in einem schweren
Zustande der Betrunkenheit; er hat sich so krank gemacht, daß er wenigstens
acht Tage das Bett hüten muß; aber die Anderen müssen bestraft werden." --
"Wie?" -- "Drei Tage lang bekommen sie weder Wein, noch Cigarren;
und wenn sie fortgehen, füllen Sie ihnen zwar ihre Flaschen, aber -- mit
Wasser." -- Die Schuldigen gehörten zum Saal Ur. 7. Ihre Strafe wurde
vollzogen.

Die Jnspectionsbesuche des Delegirten hatten keine bestimmte Zeit.
Doch es war immer für unsere ^mour propre ein Gegenstand der Genug¬
thuung, wenn der Inspector sich recht befriedigt über das Ganze aussprach
und es sein "Musterspital" nannte. Frau Schmidt verdiente auch wirklich
dieses Lob, denn ihr Bezirk war wirklich ein Wunder von Reinlichkeit und
Ordnung. Die zwei Militärköche waren ausgezeichnete Bursche, obgleich sie
manchmal das Temperament ihrer "Chefesse" erhitzten. Die Scheuerfrau sagte
mir wirklich einmal: ,0'est uus excellente kenne, mais eile s'emporte
comme une soupe an I"it!"

Sonntag Nachmittags hielt ein Feldkaplcm (einer der beredetsten Men¬
schen, die ich je gehört habe) in dem größten Krankensaal Gottesdienst. Dieser
dauerte ungefähr eine halbe Stunde und bestand aus sehr gutem Kirchenge¬
sang ohne Begleitung, einem unvorbereiteter Gebet und einer Predigt. Die
Patienten aus dem Spital in Chü-teau Bruyeres kamen herüber und alle,
Katholiken wie Protestanten, nahmen an dem Gottesdienst Theil. Die, welche
nicht stark genug waren, blieben auf ihren Betten sitzen; die Andern standen
kreisförmig um den Tisch in der Mitte des Zimmers, worauf das einzige
Buch aus dem der Kaplan schöpfte, die Bibel, lag. Es war rührend
die gespannte Aufmerksamkeit dieser Menschen zu sehen, die mit gesenktem
Blicke dastanden. Unter den Soldaten war auch ein großer Ulan, der erst
kürzlich angekommen war und sehr blaß und schwach aussah; er hatte Typhus
und Ruhr gehabt. Als nun der Kaplan sie auf die Dankbarkeit hinwies,
die sie Gott gegenüber haben müßten, nicht nur weil er ihnen Erfolg ge¬
währt hätte, sondern auch weil sein besonderer Segen sie vor dem schrecklichen
Ende so vieler Kameraden bewahrt hätte, und die Hoffnung auf einen baldigen
Frieden aussprach, damit sie alle in ihr "Vaterland" und zu ihren Fami¬
lien zurückkehren könnten -- da hörte man gar manches Schluchzen. Als ich
aufsah um mir diese einfache, aber doch so imposante Scene zu betrachten,
sah ich, wie der große Ulan immer weißer wurde, und die blauen Ringe um
seine Augen immer dunkler; im Augenblick drauf schwankte er nach vornen,
zwei Krankenwärter hielten ihn und brachten ihn in den nächsten Saal. Ich
holte Eis und Aufschläge und ging an sein Bett, worin er ganz bewußtlos
lag. Die Beredtsamkeit des Kaplans und die Erwähnung der "Heimath"


gestern Abend geleert und sich betrunken. Der Mensch, dem Sie gestern
Nacht begegneten, wandelte nicht im Schlafe, sondern war in einem schweren
Zustande der Betrunkenheit; er hat sich so krank gemacht, daß er wenigstens
acht Tage das Bett hüten muß; aber die Anderen müssen bestraft werden." —
„Wie?" — „Drei Tage lang bekommen sie weder Wein, noch Cigarren;
und wenn sie fortgehen, füllen Sie ihnen zwar ihre Flaschen, aber — mit
Wasser." — Die Schuldigen gehörten zum Saal Ur. 7. Ihre Strafe wurde
vollzogen.

Die Jnspectionsbesuche des Delegirten hatten keine bestimmte Zeit.
Doch es war immer für unsere ^mour propre ein Gegenstand der Genug¬
thuung, wenn der Inspector sich recht befriedigt über das Ganze aussprach
und es sein „Musterspital" nannte. Frau Schmidt verdiente auch wirklich
dieses Lob, denn ihr Bezirk war wirklich ein Wunder von Reinlichkeit und
Ordnung. Die zwei Militärköche waren ausgezeichnete Bursche, obgleich sie
manchmal das Temperament ihrer „Chefesse" erhitzten. Die Scheuerfrau sagte
mir wirklich einmal: ,0'est uus excellente kenne, mais eile s'emporte
comme une soupe an I»it!"

Sonntag Nachmittags hielt ein Feldkaplcm (einer der beredetsten Men¬
schen, die ich je gehört habe) in dem größten Krankensaal Gottesdienst. Dieser
dauerte ungefähr eine halbe Stunde und bestand aus sehr gutem Kirchenge¬
sang ohne Begleitung, einem unvorbereiteter Gebet und einer Predigt. Die
Patienten aus dem Spital in Chü-teau Bruyeres kamen herüber und alle,
Katholiken wie Protestanten, nahmen an dem Gottesdienst Theil. Die, welche
nicht stark genug waren, blieben auf ihren Betten sitzen; die Andern standen
kreisförmig um den Tisch in der Mitte des Zimmers, worauf das einzige
Buch aus dem der Kaplan schöpfte, die Bibel, lag. Es war rührend
die gespannte Aufmerksamkeit dieser Menschen zu sehen, die mit gesenktem
Blicke dastanden. Unter den Soldaten war auch ein großer Ulan, der erst
kürzlich angekommen war und sehr blaß und schwach aussah; er hatte Typhus
und Ruhr gehabt. Als nun der Kaplan sie auf die Dankbarkeit hinwies,
die sie Gott gegenüber haben müßten, nicht nur weil er ihnen Erfolg ge¬
währt hätte, sondern auch weil sein besonderer Segen sie vor dem schrecklichen
Ende so vieler Kameraden bewahrt hätte, und die Hoffnung auf einen baldigen
Frieden aussprach, damit sie alle in ihr „Vaterland" und zu ihren Fami¬
lien zurückkehren könnten — da hörte man gar manches Schluchzen. Als ich
aufsah um mir diese einfache, aber doch so imposante Scene zu betrachten,
sah ich, wie der große Ulan immer weißer wurde, und die blauen Ringe um
seine Augen immer dunkler; im Augenblick drauf schwankte er nach vornen,
zwei Krankenwärter hielten ihn und brachten ihn in den nächsten Saal. Ich
holte Eis und Aufschläge und ging an sein Bett, worin er ganz bewußtlos
lag. Die Beredtsamkeit des Kaplans und die Erwähnung der „Heimath"


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[0314] gestern Abend geleert und sich betrunken. Der Mensch, dem Sie gestern Nacht begegneten, wandelte nicht im Schlafe, sondern war in einem schweren Zustande der Betrunkenheit; er hat sich so krank gemacht, daß er wenigstens acht Tage das Bett hüten muß; aber die Anderen müssen bestraft werden." — „Wie?" — „Drei Tage lang bekommen sie weder Wein, noch Cigarren; und wenn sie fortgehen, füllen Sie ihnen zwar ihre Flaschen, aber — mit Wasser." — Die Schuldigen gehörten zum Saal Ur. 7. Ihre Strafe wurde vollzogen. Die Jnspectionsbesuche des Delegirten hatten keine bestimmte Zeit. Doch es war immer für unsere ^mour propre ein Gegenstand der Genug¬ thuung, wenn der Inspector sich recht befriedigt über das Ganze aussprach und es sein „Musterspital" nannte. Frau Schmidt verdiente auch wirklich dieses Lob, denn ihr Bezirk war wirklich ein Wunder von Reinlichkeit und Ordnung. Die zwei Militärköche waren ausgezeichnete Bursche, obgleich sie manchmal das Temperament ihrer „Chefesse" erhitzten. Die Scheuerfrau sagte mir wirklich einmal: ,0'est uus excellente kenne, mais eile s'emporte comme une soupe an I»it!" Sonntag Nachmittags hielt ein Feldkaplcm (einer der beredetsten Men¬ schen, die ich je gehört habe) in dem größten Krankensaal Gottesdienst. Dieser dauerte ungefähr eine halbe Stunde und bestand aus sehr gutem Kirchenge¬ sang ohne Begleitung, einem unvorbereiteter Gebet und einer Predigt. Die Patienten aus dem Spital in Chü-teau Bruyeres kamen herüber und alle, Katholiken wie Protestanten, nahmen an dem Gottesdienst Theil. Die, welche nicht stark genug waren, blieben auf ihren Betten sitzen; die Andern standen kreisförmig um den Tisch in der Mitte des Zimmers, worauf das einzige Buch aus dem der Kaplan schöpfte, die Bibel, lag. Es war rührend die gespannte Aufmerksamkeit dieser Menschen zu sehen, die mit gesenktem Blicke dastanden. Unter den Soldaten war auch ein großer Ulan, der erst kürzlich angekommen war und sehr blaß und schwach aussah; er hatte Typhus und Ruhr gehabt. Als nun der Kaplan sie auf die Dankbarkeit hinwies, die sie Gott gegenüber haben müßten, nicht nur weil er ihnen Erfolg ge¬ währt hätte, sondern auch weil sein besonderer Segen sie vor dem schrecklichen Ende so vieler Kameraden bewahrt hätte, und die Hoffnung auf einen baldigen Frieden aussprach, damit sie alle in ihr „Vaterland" und zu ihren Fami¬ lien zurückkehren könnten — da hörte man gar manches Schluchzen. Als ich aufsah um mir diese einfache, aber doch so imposante Scene zu betrachten, sah ich, wie der große Ulan immer weißer wurde, und die blauen Ringe um seine Augen immer dunkler; im Augenblick drauf schwankte er nach vornen, zwei Krankenwärter hielten ihn und brachten ihn in den nächsten Saal. Ich holte Eis und Aufschläge und ging an sein Bett, worin er ganz bewußtlos lag. Die Beredtsamkeit des Kaplans und die Erwähnung der „Heimath"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/314>, abgerufen am 11.02.2025.