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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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dienten zu essen. Um 8 Uhr Morgens "()!i.k6 an tiur" und Brod, um 10 Uhr
Vormittags ein Stück Brod, entweder mit Butter oder mit einem Stück
Schinken, Wurst oder Häring und ein Glas Portwein. Am Nachmittag be¬
kamen sie ein Essen, welches aus einer dicken Suppe (entweder von Erbswurst,
Reis oder Gerste), einer gehörigen Portion Fleisch (Ochs, Hammel, Kalb
oder Lamm) und Gemüse bestand. Um 4 Uhr Nachmittags gab es wieder
Brod und kaltes Fleisch und etwas mehr Portwein; am Abend Suppe und
aufgewärmtes Fleisch mit dicken Saucen, die reichlich mit Essig und Zwiebeln
versehen waren.

Mit dem Oberchirurgen Doctor Meyer stand ich auf einem eigen¬
thümlichen Fuß, bald die vollkommenste Höflichkeit, bald strengste Disciplin.
So oft meine Geschäfte mich in sein Zimmer führten und ich mit einem aus
dem Hospital hinging, stand er nie auf, sondern drehte sich nur um und gab
entweder Befehle, oder beantwortete mir meine Fragen kurz und bündig.
Wenn ich aber allein kam, schien er zu vergessen, daß ich nur eine "Pflege¬
rin" sei, dann erhob er sich, schlug mit einer Verbeugung seine Hacken zu¬
sammen und fragte mich höflichst, mit was er mir dienen könne. -- Eines
Morgens ward ich zu ihm gerufen. Er sagte mir: "Fräulein, obgleich Sie
nicht dazu verpflichtet sind, bei den Kranken zu wachen, weiß ich doch, daß
Sie schon aus Interesse für das Wohl meiner Patienten diese oft besuchen;
Und ich sowohl als sie, sind Ihnen für die günstigen Veränderungen, die Sie
eingeführt haben, sehr dankbar. Darum ist es auch meine Pflicht, Ihnen
jetzt mitzutheilen, daß heute Morgen ein Pockenfall im Saal Ur. ö auf¬
getreten ist."-- "Sie brauchen darob sich meinethalben nicht zu ängstigen, Herr
Stabsarzt", sagte ich, "denn ich habe nicht die geringste Furcht vor Ansteckung,
und habe auch schon oft Pockenkranke gepflegt." -- "So, so", sagte der strenge
Mann, und strich seinen Bart, "Sie fürchten sich also gar nicht?" -- "Nein,
gar nicht." -- "Nun denn, das ist gut. Ich habe Befehl gegeben, daß der
Mann in einer Stunde nach Vitry geschafft wird; sehen Sie darauf, daß er
seine Bettdecken mitnimmt, und daß seine zurückbleibende Strohmatratze gleich
Kerbrannt wird.

Während der ersten drei Wochen, die ich in Bellegarde war. hatte ich
von Morgens früh bis Abends, d. h. bis zur Vertheilung der Lichter für die
"Nachtwache", mit der mein Tagewerk beendet war, so viel zu thun, daß
^) oft stehend aß und nie Zeit hatte, vor die Thüre zu gehen und die an¬
deren Gebäude zu inspiciren. Und wirklich, wenn ich nicht zufällig, als ich eines
Abends aus dem Fenster blickte, gesehen hätte, daß es wieder Vollmond war,
hätte ich nicht gewußt, daß wir in einem neuen Monat wären. -- Briefe
von zu Hause erreichten mich nicht, sondern halfen wahrscheinlich nur jene
Korrespondenz "des Todtenbriefamts" vermehren; etwas" Aehnliches schien


dienten zu essen. Um 8 Uhr Morgens „()!i.k6 an tiur" und Brod, um 10 Uhr
Vormittags ein Stück Brod, entweder mit Butter oder mit einem Stück
Schinken, Wurst oder Häring und ein Glas Portwein. Am Nachmittag be¬
kamen sie ein Essen, welches aus einer dicken Suppe (entweder von Erbswurst,
Reis oder Gerste), einer gehörigen Portion Fleisch (Ochs, Hammel, Kalb
oder Lamm) und Gemüse bestand. Um 4 Uhr Nachmittags gab es wieder
Brod und kaltes Fleisch und etwas mehr Portwein; am Abend Suppe und
aufgewärmtes Fleisch mit dicken Saucen, die reichlich mit Essig und Zwiebeln
versehen waren.

Mit dem Oberchirurgen Doctor Meyer stand ich auf einem eigen¬
thümlichen Fuß, bald die vollkommenste Höflichkeit, bald strengste Disciplin.
So oft meine Geschäfte mich in sein Zimmer führten und ich mit einem aus
dem Hospital hinging, stand er nie auf, sondern drehte sich nur um und gab
entweder Befehle, oder beantwortete mir meine Fragen kurz und bündig.
Wenn ich aber allein kam, schien er zu vergessen, daß ich nur eine „Pflege¬
rin" sei, dann erhob er sich, schlug mit einer Verbeugung seine Hacken zu¬
sammen und fragte mich höflichst, mit was er mir dienen könne. — Eines
Morgens ward ich zu ihm gerufen. Er sagte mir: „Fräulein, obgleich Sie
nicht dazu verpflichtet sind, bei den Kranken zu wachen, weiß ich doch, daß
Sie schon aus Interesse für das Wohl meiner Patienten diese oft besuchen;
Und ich sowohl als sie, sind Ihnen für die günstigen Veränderungen, die Sie
eingeführt haben, sehr dankbar. Darum ist es auch meine Pflicht, Ihnen
jetzt mitzutheilen, daß heute Morgen ein Pockenfall im Saal Ur. ö auf¬
getreten ist."— „Sie brauchen darob sich meinethalben nicht zu ängstigen, Herr
Stabsarzt", sagte ich, „denn ich habe nicht die geringste Furcht vor Ansteckung,
und habe auch schon oft Pockenkranke gepflegt." — „So, so", sagte der strenge
Mann, und strich seinen Bart, „Sie fürchten sich also gar nicht?" — „Nein,
gar nicht." — „Nun denn, das ist gut. Ich habe Befehl gegeben, daß der
Mann in einer Stunde nach Vitry geschafft wird; sehen Sie darauf, daß er
seine Bettdecken mitnimmt, und daß seine zurückbleibende Strohmatratze gleich
Kerbrannt wird.

Während der ersten drei Wochen, die ich in Bellegarde war. hatte ich
von Morgens früh bis Abends, d. h. bis zur Vertheilung der Lichter für die
»Nachtwache", mit der mein Tagewerk beendet war, so viel zu thun, daß
^) oft stehend aß und nie Zeit hatte, vor die Thüre zu gehen und die an¬
deren Gebäude zu inspiciren. Und wirklich, wenn ich nicht zufällig, als ich eines
Abends aus dem Fenster blickte, gesehen hätte, daß es wieder Vollmond war,
hätte ich nicht gewußt, daß wir in einem neuen Monat wären. — Briefe
von zu Hause erreichten mich nicht, sondern halfen wahrscheinlich nur jene
Korrespondenz „des Todtenbriefamts" vermehren; etwas" Aehnliches schien


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[0311] dienten zu essen. Um 8 Uhr Morgens „()!i.k6 an tiur" und Brod, um 10 Uhr Vormittags ein Stück Brod, entweder mit Butter oder mit einem Stück Schinken, Wurst oder Häring und ein Glas Portwein. Am Nachmittag be¬ kamen sie ein Essen, welches aus einer dicken Suppe (entweder von Erbswurst, Reis oder Gerste), einer gehörigen Portion Fleisch (Ochs, Hammel, Kalb oder Lamm) und Gemüse bestand. Um 4 Uhr Nachmittags gab es wieder Brod und kaltes Fleisch und etwas mehr Portwein; am Abend Suppe und aufgewärmtes Fleisch mit dicken Saucen, die reichlich mit Essig und Zwiebeln versehen waren. Mit dem Oberchirurgen Doctor Meyer stand ich auf einem eigen¬ thümlichen Fuß, bald die vollkommenste Höflichkeit, bald strengste Disciplin. So oft meine Geschäfte mich in sein Zimmer führten und ich mit einem aus dem Hospital hinging, stand er nie auf, sondern drehte sich nur um und gab entweder Befehle, oder beantwortete mir meine Fragen kurz und bündig. Wenn ich aber allein kam, schien er zu vergessen, daß ich nur eine „Pflege¬ rin" sei, dann erhob er sich, schlug mit einer Verbeugung seine Hacken zu¬ sammen und fragte mich höflichst, mit was er mir dienen könne. — Eines Morgens ward ich zu ihm gerufen. Er sagte mir: „Fräulein, obgleich Sie nicht dazu verpflichtet sind, bei den Kranken zu wachen, weiß ich doch, daß Sie schon aus Interesse für das Wohl meiner Patienten diese oft besuchen; Und ich sowohl als sie, sind Ihnen für die günstigen Veränderungen, die Sie eingeführt haben, sehr dankbar. Darum ist es auch meine Pflicht, Ihnen jetzt mitzutheilen, daß heute Morgen ein Pockenfall im Saal Ur. ö auf¬ getreten ist."— „Sie brauchen darob sich meinethalben nicht zu ängstigen, Herr Stabsarzt", sagte ich, „denn ich habe nicht die geringste Furcht vor Ansteckung, und habe auch schon oft Pockenkranke gepflegt." — „So, so", sagte der strenge Mann, und strich seinen Bart, „Sie fürchten sich also gar nicht?" — „Nein, gar nicht." — „Nun denn, das ist gut. Ich habe Befehl gegeben, daß der Mann in einer Stunde nach Vitry geschafft wird; sehen Sie darauf, daß er seine Bettdecken mitnimmt, und daß seine zurückbleibende Strohmatratze gleich Kerbrannt wird. Während der ersten drei Wochen, die ich in Bellegarde war. hatte ich von Morgens früh bis Abends, d. h. bis zur Vertheilung der Lichter für die »Nachtwache", mit der mein Tagewerk beendet war, so viel zu thun, daß ^) oft stehend aß und nie Zeit hatte, vor die Thüre zu gehen und die an¬ deren Gebäude zu inspiciren. Und wirklich, wenn ich nicht zufällig, als ich eines Abends aus dem Fenster blickte, gesehen hätte, daß es wieder Vollmond war, hätte ich nicht gewußt, daß wir in einem neuen Monat wären. — Briefe von zu Hause erreichten mich nicht, sondern halfen wahrscheinlich nur jene Korrespondenz „des Todtenbriefamts" vermehren; etwas" Aehnliches schien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/311>, abgerufen am 06.02.2025.