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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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saftige Historia von der wunderschönen, durchlauchtigen kaiserlichen Prinzessin
Europa. eine Travestie aus die ovidische Erzählung. Ader seitdem er Mai
1773 Herders "herrliche Blätter" (die Briefe über Ossian in den Blättern
deutscher Art und Kunst) gelesen, kann er sich in den alten bänkelsängerischen
Ton nicht mehr finden.

In jeder Beziehung gab er Herder Recht. Das beste Zeugniß für seine
völlige Beistimmung, zugleich für seine Abhängigkeit von Herder ist der
"Herzensausguß über Volkspoesie" in Bürgers deutschem Museum (1776); in
derselben Zeitschrift stand im folgenden Jahre Herders Abhandlung über die
Aehnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst.

Jeder Satz Bürgers ist Herderisch gedacht; überall blickt der Gegensatz
gegen Gottsched wie Klopstock durch. Der Dichter sollte nicht bloß für die
obersten Klassen da sein; sein Beruf ist, gleich verständlich und unterhaltend
für Alle zu dichten, dem widerstrebt die "Quisquiliengelahrtheit" unserer Na¬
tion. "Möchte dies gelehrte Treiben seinen alten Gang anderswohin im¬
mer gehen, nur nicht in der Poeterei. Die deutsche Muse sollte nicht auf
gelehrte Reisen gehen, sondern ihren Naturkatechismus zu Hause auswen¬
dig lernen. Wo steht in diesem geschrieben, daß sie fremde Phantasieen und
Empfindungen einholen und ihre eigenen in fremde Mumm er el hüllen
soll? Daß sie keine deutsche Menschensprache, sondern gleichsam eine Gört er¬
sprach e stammeln soll?*) Man will nicht wie seines Gleichen, sondern wie
Völker anderer Zeiten und Zonen, oft gar wie der liebe Gott und die hei¬
ligen Engel empfinden. Man erkundige die Phantasie und Fühlbarkeit des
Volkes im Ganzen, um jene mit gehörigen Bildern zu füllen und für diese
das rechte Kaliber zu treffen. Ein Dichter, der dies vermag, wird durch
seinen Gesang ebenso sehr den verfeinerten Weisen als den Bewohner des
Waldes, die Dame am Putztisch, wie die Tochter der Natur hinter dem
Spinnrocken und auf der Bleiche entzücken. Die Natur weist der Poesie das
Gebiet der Phantasie und Empfindung, dagegen die "Belustigungen des Ver¬
standes und Witzes"**) der Versmacherkunst an. Wahre volksmäßige Poesie
ist in unsern alten Volksliedern zu finden. Oefter lauschte darum der
Verfasser in der Abenddämmerung dem Zauberschall der Balladen und
Gassenhauer unter den Linden des Dorfs (Alten-Gleichen), auf der Bleiche
und in der Spinnstube." Hier kann man den Ton der volksmäßigen
Ballade und Romanze lernen; die höhere Lyrik (man darf es doch




-) Unwillkürlich erinnert mein sich an die Kwpstock'sche, Ode: Der Seraph stanimeits
u. s. w.
-
) Man erinnert sich der so betitelten Zeitschrift des Ge'ttschedianers Joh. Joach. Schwabe,
die mancherlei kleine zur "Weltweisheit, Veredtsamkeit mW Dichtkunst" gehörige Sachen sammelte.

saftige Historia von der wunderschönen, durchlauchtigen kaiserlichen Prinzessin
Europa. eine Travestie aus die ovidische Erzählung. Ader seitdem er Mai
1773 Herders „herrliche Blätter" (die Briefe über Ossian in den Blättern
deutscher Art und Kunst) gelesen, kann er sich in den alten bänkelsängerischen
Ton nicht mehr finden.

In jeder Beziehung gab er Herder Recht. Das beste Zeugniß für seine
völlige Beistimmung, zugleich für seine Abhängigkeit von Herder ist der
„Herzensausguß über Volkspoesie" in Bürgers deutschem Museum (1776); in
derselben Zeitschrift stand im folgenden Jahre Herders Abhandlung über die
Aehnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst.

Jeder Satz Bürgers ist Herderisch gedacht; überall blickt der Gegensatz
gegen Gottsched wie Klopstock durch. Der Dichter sollte nicht bloß für die
obersten Klassen da sein; sein Beruf ist, gleich verständlich und unterhaltend
für Alle zu dichten, dem widerstrebt die „Quisquiliengelahrtheit" unserer Na¬
tion. „Möchte dies gelehrte Treiben seinen alten Gang anderswohin im¬
mer gehen, nur nicht in der Poeterei. Die deutsche Muse sollte nicht auf
gelehrte Reisen gehen, sondern ihren Naturkatechismus zu Hause auswen¬
dig lernen. Wo steht in diesem geschrieben, daß sie fremde Phantasieen und
Empfindungen einholen und ihre eigenen in fremde Mumm er el hüllen
soll? Daß sie keine deutsche Menschensprache, sondern gleichsam eine Gört er¬
sprach e stammeln soll?*) Man will nicht wie seines Gleichen, sondern wie
Völker anderer Zeiten und Zonen, oft gar wie der liebe Gott und die hei¬
ligen Engel empfinden. Man erkundige die Phantasie und Fühlbarkeit des
Volkes im Ganzen, um jene mit gehörigen Bildern zu füllen und für diese
das rechte Kaliber zu treffen. Ein Dichter, der dies vermag, wird durch
seinen Gesang ebenso sehr den verfeinerten Weisen als den Bewohner des
Waldes, die Dame am Putztisch, wie die Tochter der Natur hinter dem
Spinnrocken und auf der Bleiche entzücken. Die Natur weist der Poesie das
Gebiet der Phantasie und Empfindung, dagegen die „Belustigungen des Ver¬
standes und Witzes"**) der Versmacherkunst an. Wahre volksmäßige Poesie
ist in unsern alten Volksliedern zu finden. Oefter lauschte darum der
Verfasser in der Abenddämmerung dem Zauberschall der Balladen und
Gassenhauer unter den Linden des Dorfs (Alten-Gleichen), auf der Bleiche
und in der Spinnstube." Hier kann man den Ton der volksmäßigen
Ballade und Romanze lernen; die höhere Lyrik (man darf es doch




-) Unwillkürlich erinnert mein sich an die Kwpstock'sche, Ode: Der Seraph stanimeits
u. s. w.
-
) Man erinnert sich der so betitelten Zeitschrift des Ge'ttschedianers Joh. Joach. Schwabe,
die mancherlei kleine zur „Weltweisheit, Veredtsamkeit mW Dichtkunst" gehörige Sachen sammelte.
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[0029] saftige Historia von der wunderschönen, durchlauchtigen kaiserlichen Prinzessin Europa. eine Travestie aus die ovidische Erzählung. Ader seitdem er Mai 1773 Herders „herrliche Blätter" (die Briefe über Ossian in den Blättern deutscher Art und Kunst) gelesen, kann er sich in den alten bänkelsängerischen Ton nicht mehr finden. In jeder Beziehung gab er Herder Recht. Das beste Zeugniß für seine völlige Beistimmung, zugleich für seine Abhängigkeit von Herder ist der „Herzensausguß über Volkspoesie" in Bürgers deutschem Museum (1776); in derselben Zeitschrift stand im folgenden Jahre Herders Abhandlung über die Aehnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst. Jeder Satz Bürgers ist Herderisch gedacht; überall blickt der Gegensatz gegen Gottsched wie Klopstock durch. Der Dichter sollte nicht bloß für die obersten Klassen da sein; sein Beruf ist, gleich verständlich und unterhaltend für Alle zu dichten, dem widerstrebt die „Quisquiliengelahrtheit" unserer Na¬ tion. „Möchte dies gelehrte Treiben seinen alten Gang anderswohin im¬ mer gehen, nur nicht in der Poeterei. Die deutsche Muse sollte nicht auf gelehrte Reisen gehen, sondern ihren Naturkatechismus zu Hause auswen¬ dig lernen. Wo steht in diesem geschrieben, daß sie fremde Phantasieen und Empfindungen einholen und ihre eigenen in fremde Mumm er el hüllen soll? Daß sie keine deutsche Menschensprache, sondern gleichsam eine Gört er¬ sprach e stammeln soll?*) Man will nicht wie seines Gleichen, sondern wie Völker anderer Zeiten und Zonen, oft gar wie der liebe Gott und die hei¬ ligen Engel empfinden. Man erkundige die Phantasie und Fühlbarkeit des Volkes im Ganzen, um jene mit gehörigen Bildern zu füllen und für diese das rechte Kaliber zu treffen. Ein Dichter, der dies vermag, wird durch seinen Gesang ebenso sehr den verfeinerten Weisen als den Bewohner des Waldes, die Dame am Putztisch, wie die Tochter der Natur hinter dem Spinnrocken und auf der Bleiche entzücken. Die Natur weist der Poesie das Gebiet der Phantasie und Empfindung, dagegen die „Belustigungen des Ver¬ standes und Witzes"**) der Versmacherkunst an. Wahre volksmäßige Poesie ist in unsern alten Volksliedern zu finden. Oefter lauschte darum der Verfasser in der Abenddämmerung dem Zauberschall der Balladen und Gassenhauer unter den Linden des Dorfs (Alten-Gleichen), auf der Bleiche und in der Spinnstube." Hier kann man den Ton der volksmäßigen Ballade und Romanze lernen; die höhere Lyrik (man darf es doch -) Unwillkürlich erinnert mein sich an die Kwpstock'sche, Ode: Der Seraph stanimeits u. s. w. - ) Man erinnert sich der so betitelten Zeitschrift des Ge'ttschedianers Joh. Joach. Schwabe, die mancherlei kleine zur „Weltweisheit, Veredtsamkeit mW Dichtkunst" gehörige Sachen sammelte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/29>, abgerufen am 05.02.2025.