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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Maßstab waren die Babyloniaka bis zu einem gewissen Grad ein Roman im
modernen Sinn. Simonis erscheint, insbesondere nach dem oben mitgetheil¬
ten, bei Suidas erhaltenen Fragment über ihren eifersüchtigen Haß gegen die
Tochter des Landmanns als ein realer, leidenschaftlicher Charakter von Fleisch
und Blut, der Entwicklung und der Wandlungen fähig, mithin auch fähig,
Spannung und wirkliches Interesse bei dem Leser zu erregen. Sie unter¬
scheidet sich dadurch höchst vortheilhaft vor den idealen Schablonen treulieben¬
der Frauen der andern Romane, z. B. der Chariclea des Heliodor und der
Leukippe des Achilles Tatius, bei denen nie der mindeste Zweifel darüber er¬
regt wird, daß sie schließlich in der üblichen musikalischen Grotte zur sittlichen
Befriedigung des Lesers ihre Tugendprobe glänzend bestehen werden. Bon
den übrigen Hauptpersonen des Romans heben wir noch die Zeichnung des
Garmos und des Sorächos hervor; der erstere ist der vollendete Typus eines
orientalischen Despoten, der letztere ein einfacher, echt humaner Charakter.
Der Hauptheld Rhooanes ist verhältnißmäßig am blässesten gezeichnet. --
Ein zweites günstiges Urtheil über die Babyloniaka betrifft ihren Stoff.

Der Stoff fast aller andern griechischen Romane ist in der Hauptsache
folgender. Zwei Liebende unternehmen zusammen eine Seereise, werden von
Seeräubern gefangen und getrennt, sodann durch verschiedene Wechselfälle
wieder vereinigt und wieder getrennt, endlich definitiv gerettet und vereint,
worauf die Heldin die bereits oben erwähnte Probe ihrer oft angefochtenen
Unschuld in einer musikalischen Grotte besteht. Dieses nämliche Thema va-
riiren mehr oder minder die Aethiopika des Heliodor in den Fahrten des
Theagenes und der Chariclea, die Abenteuer der Leukippe und des Kleitophon
von Achilles Tatius, Chaereas und Calirrhoe von Chariton, die Ephesiaka
des A'enophon, und mit geringen Nuancen auch die "unglaublichen Dinge jen¬
seits Thule" von Antonius Diogenes.

Dieser Stoff entspricht dem Ursprung des griechischen Romans, der Reise-
beschreibung (in ältester und erster Instanz der Odyssee); auch sollen alle Er¬
zeugnisse dieser Dichtungsgattung nach dem Muster eines von einem unbe¬
kannten Schriftsteller des ersten Jahrhunderts der vorchristlichen Zeit geschrie¬
benen, dem Titel nach unbekannten, Romans des geschilderten Inhalts
gefertigt sein.

Jamblichos Borzug (ein Vorzug, den er nur noch mit Longus und Apu-
lejus theilt) ist nun: von dieser Schablone des antiken Romans durch selbst¬
ständige Dichtung und Bearbeitung localer und nationaler Sagen wenigstens
in der Hauptsache abzuweichen. Er selbst bezeugt nach Photius im Eingang
seines Werks dessen traditionellen und nationalen Stoff, indem er sagt: "Zu
den babylonischen Ueberlieferungen, welche mir mein Pflegevater beigebracht
hat, gehört auch diejenige, welche ich jetzt erzählen will."


Maßstab waren die Babyloniaka bis zu einem gewissen Grad ein Roman im
modernen Sinn. Simonis erscheint, insbesondere nach dem oben mitgetheil¬
ten, bei Suidas erhaltenen Fragment über ihren eifersüchtigen Haß gegen die
Tochter des Landmanns als ein realer, leidenschaftlicher Charakter von Fleisch
und Blut, der Entwicklung und der Wandlungen fähig, mithin auch fähig,
Spannung und wirkliches Interesse bei dem Leser zu erregen. Sie unter¬
scheidet sich dadurch höchst vortheilhaft vor den idealen Schablonen treulieben¬
der Frauen der andern Romane, z. B. der Chariclea des Heliodor und der
Leukippe des Achilles Tatius, bei denen nie der mindeste Zweifel darüber er¬
regt wird, daß sie schließlich in der üblichen musikalischen Grotte zur sittlichen
Befriedigung des Lesers ihre Tugendprobe glänzend bestehen werden. Bon
den übrigen Hauptpersonen des Romans heben wir noch die Zeichnung des
Garmos und des Sorächos hervor; der erstere ist der vollendete Typus eines
orientalischen Despoten, der letztere ein einfacher, echt humaner Charakter.
Der Hauptheld Rhooanes ist verhältnißmäßig am blässesten gezeichnet. —
Ein zweites günstiges Urtheil über die Babyloniaka betrifft ihren Stoff.

Der Stoff fast aller andern griechischen Romane ist in der Hauptsache
folgender. Zwei Liebende unternehmen zusammen eine Seereise, werden von
Seeräubern gefangen und getrennt, sodann durch verschiedene Wechselfälle
wieder vereinigt und wieder getrennt, endlich definitiv gerettet und vereint,
worauf die Heldin die bereits oben erwähnte Probe ihrer oft angefochtenen
Unschuld in einer musikalischen Grotte besteht. Dieses nämliche Thema va-
riiren mehr oder minder die Aethiopika des Heliodor in den Fahrten des
Theagenes und der Chariclea, die Abenteuer der Leukippe und des Kleitophon
von Achilles Tatius, Chaereas und Calirrhoe von Chariton, die Ephesiaka
des A'enophon, und mit geringen Nuancen auch die „unglaublichen Dinge jen¬
seits Thule" von Antonius Diogenes.

Dieser Stoff entspricht dem Ursprung des griechischen Romans, der Reise-
beschreibung (in ältester und erster Instanz der Odyssee); auch sollen alle Er¬
zeugnisse dieser Dichtungsgattung nach dem Muster eines von einem unbe¬
kannten Schriftsteller des ersten Jahrhunderts der vorchristlichen Zeit geschrie¬
benen, dem Titel nach unbekannten, Romans des geschilderten Inhalts
gefertigt sein.

Jamblichos Borzug (ein Vorzug, den er nur noch mit Longus und Apu-
lejus theilt) ist nun: von dieser Schablone des antiken Romans durch selbst¬
ständige Dichtung und Bearbeitung localer und nationaler Sagen wenigstens
in der Hauptsache abzuweichen. Er selbst bezeugt nach Photius im Eingang
seines Werks dessen traditionellen und nationalen Stoff, indem er sagt: „Zu
den babylonischen Ueberlieferungen, welche mir mein Pflegevater beigebracht
hat, gehört auch diejenige, welche ich jetzt erzählen will."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/221>, abgerufen am 05.02.2025.