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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Staates in England war von Macaulay und von Ranke schon hin¬
reichend geschildert; unser Verfasser hat selbst in einer der oben genannten
Abhandlungen eine vergleichende Charakteristik der Leistungen beider großen
Historiker angestellt, die tiefgreifenden Schwächen und Fehler des Engländers,
seine Befangenheit in einer ganz unhistorischen Parteidoctrin, seine Verzer¬
rung und Fälschung der Geschichte scharf und schneidig gegeißelt, dagegen die
großen Vorzüge Ranke's mit Ruhe und Objectivität dargelegt, ohne sich zu
einem übertriebenen und maßlosen Loblied auf unseren deutschen Meister ver¬
führen zu lassen. Bekanntlich sind die beiden Werke an der Schwelle des
18. Jahrhunderts stehen geblieben. Zwar hat in England Earl Stan-
hope, der schon früher als Lord Mehon eine englische Geschichte von 1713
bis 1783 geschrieben, gleichsam zur Ausfüllung der Lücke zwischen Macaulay
und seinem früheren Buche kürzlich eine Geschichte der Königin Anna er¬
scheinen lassen, aber das ist eine sehr ungenügende, kaum mittelmäßig zu nen¬
nende Arbeit, die wir auf dem Continente ohne Schaden ganz unberücksichtigt
lassen dürfen. Es war noch eine offene Aufgabe, dort wo Ranke und Ma¬
caulay abbrechen, den Faden der Erzählung aufzunehmen und durch diejenige
Zeit hindurch weiter zu führen, in welcher das System des Parlamentaris¬
mus im Innern sich befestigt und Englands Machtstellung nach Außen sich
vollständig entwickelt hat. Aber der erste Plan der Arbeit hat sich doch bald
erweitert, und eine Geschichte der europäischen Verwicklungen, in denen Eng¬
lands Politik eine maßgebende Rolle gespielt, ist der eigentliche Inhalt des
Werkes geworden.

Mit einer gewissen Genugthuung dürfen wir darauf hinweisen, wie um¬
fassend unsere heutigen Historiker ihre Aufgabe sich zu stellen und in welchem
Umfange sie ihre Studien einzurichten pflegen. Von allen Seiten wird das
Material zu einer wissenschaftlichen Behandlung verwickelter Fragen herbei¬
geholt und nicht leicht eine wesentliche Aufschlüsse verheißende Fundgrube un¬
benutzt zur Seite gelassen. So hat auch Noorden die gesammte sehr weit¬
läufige gedruckte Literatur sich vollständig zusammengesucht und sie erschöpfend
benutzt; sodann hat er über die verschlungene diplomatische Action auch Zu¬
gang gesucht zu den für seine Zwecke wichtigsten Archiven von Holland, von
England und in Berlin. Er gibt selbst an, daß für die Fortsetzung seines
Geschichtswerkes auch die Pariser und Wiener Archive zu benutzen sein wer¬
den. Da er im Haag und in London in Besitz des wichtigsten Stoffes ge¬
langt zu sein hoffte, durfte er auf die späteren Bände die anderweitige
Forschung aufschieben. Man könnte immer denken, daß zu etwaigen Modi-
ficationen, vielleicht in Folge der Wiener Studien, sich Gelegenheit auch
später bieten werde.


Grenzboten II. 1871. 94

Staates in England war von Macaulay und von Ranke schon hin¬
reichend geschildert; unser Verfasser hat selbst in einer der oben genannten
Abhandlungen eine vergleichende Charakteristik der Leistungen beider großen
Historiker angestellt, die tiefgreifenden Schwächen und Fehler des Engländers,
seine Befangenheit in einer ganz unhistorischen Parteidoctrin, seine Verzer¬
rung und Fälschung der Geschichte scharf und schneidig gegeißelt, dagegen die
großen Vorzüge Ranke's mit Ruhe und Objectivität dargelegt, ohne sich zu
einem übertriebenen und maßlosen Loblied auf unseren deutschen Meister ver¬
führen zu lassen. Bekanntlich sind die beiden Werke an der Schwelle des
18. Jahrhunderts stehen geblieben. Zwar hat in England Earl Stan-
hope, der schon früher als Lord Mehon eine englische Geschichte von 1713
bis 1783 geschrieben, gleichsam zur Ausfüllung der Lücke zwischen Macaulay
und seinem früheren Buche kürzlich eine Geschichte der Königin Anna er¬
scheinen lassen, aber das ist eine sehr ungenügende, kaum mittelmäßig zu nen¬
nende Arbeit, die wir auf dem Continente ohne Schaden ganz unberücksichtigt
lassen dürfen. Es war noch eine offene Aufgabe, dort wo Ranke und Ma¬
caulay abbrechen, den Faden der Erzählung aufzunehmen und durch diejenige
Zeit hindurch weiter zu führen, in welcher das System des Parlamentaris¬
mus im Innern sich befestigt und Englands Machtstellung nach Außen sich
vollständig entwickelt hat. Aber der erste Plan der Arbeit hat sich doch bald
erweitert, und eine Geschichte der europäischen Verwicklungen, in denen Eng¬
lands Politik eine maßgebende Rolle gespielt, ist der eigentliche Inhalt des
Werkes geworden.

Mit einer gewissen Genugthuung dürfen wir darauf hinweisen, wie um¬
fassend unsere heutigen Historiker ihre Aufgabe sich zu stellen und in welchem
Umfange sie ihre Studien einzurichten pflegen. Von allen Seiten wird das
Material zu einer wissenschaftlichen Behandlung verwickelter Fragen herbei¬
geholt und nicht leicht eine wesentliche Aufschlüsse verheißende Fundgrube un¬
benutzt zur Seite gelassen. So hat auch Noorden die gesammte sehr weit¬
läufige gedruckte Literatur sich vollständig zusammengesucht und sie erschöpfend
benutzt; sodann hat er über die verschlungene diplomatische Action auch Zu¬
gang gesucht zu den für seine Zwecke wichtigsten Archiven von Holland, von
England und in Berlin. Er gibt selbst an, daß für die Fortsetzung seines
Geschichtswerkes auch die Pariser und Wiener Archive zu benutzen sein wer¬
den. Da er im Haag und in London in Besitz des wichtigsten Stoffes ge¬
langt zu sein hoffte, durfte er auf die späteren Bände die anderweitige
Forschung aufschieben. Man könnte immer denken, daß zu etwaigen Modi-
ficationen, vielleicht in Folge der Wiener Studien, sich Gelegenheit auch
später bieten werde.


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[0193] Staates in England war von Macaulay und von Ranke schon hin¬ reichend geschildert; unser Verfasser hat selbst in einer der oben genannten Abhandlungen eine vergleichende Charakteristik der Leistungen beider großen Historiker angestellt, die tiefgreifenden Schwächen und Fehler des Engländers, seine Befangenheit in einer ganz unhistorischen Parteidoctrin, seine Verzer¬ rung und Fälschung der Geschichte scharf und schneidig gegeißelt, dagegen die großen Vorzüge Ranke's mit Ruhe und Objectivität dargelegt, ohne sich zu einem übertriebenen und maßlosen Loblied auf unseren deutschen Meister ver¬ führen zu lassen. Bekanntlich sind die beiden Werke an der Schwelle des 18. Jahrhunderts stehen geblieben. Zwar hat in England Earl Stan- hope, der schon früher als Lord Mehon eine englische Geschichte von 1713 bis 1783 geschrieben, gleichsam zur Ausfüllung der Lücke zwischen Macaulay und seinem früheren Buche kürzlich eine Geschichte der Königin Anna er¬ scheinen lassen, aber das ist eine sehr ungenügende, kaum mittelmäßig zu nen¬ nende Arbeit, die wir auf dem Continente ohne Schaden ganz unberücksichtigt lassen dürfen. Es war noch eine offene Aufgabe, dort wo Ranke und Ma¬ caulay abbrechen, den Faden der Erzählung aufzunehmen und durch diejenige Zeit hindurch weiter zu führen, in welcher das System des Parlamentaris¬ mus im Innern sich befestigt und Englands Machtstellung nach Außen sich vollständig entwickelt hat. Aber der erste Plan der Arbeit hat sich doch bald erweitert, und eine Geschichte der europäischen Verwicklungen, in denen Eng¬ lands Politik eine maßgebende Rolle gespielt, ist der eigentliche Inhalt des Werkes geworden. Mit einer gewissen Genugthuung dürfen wir darauf hinweisen, wie um¬ fassend unsere heutigen Historiker ihre Aufgabe sich zu stellen und in welchem Umfange sie ihre Studien einzurichten pflegen. Von allen Seiten wird das Material zu einer wissenschaftlichen Behandlung verwickelter Fragen herbei¬ geholt und nicht leicht eine wesentliche Aufschlüsse verheißende Fundgrube un¬ benutzt zur Seite gelassen. So hat auch Noorden die gesammte sehr weit¬ läufige gedruckte Literatur sich vollständig zusammengesucht und sie erschöpfend benutzt; sodann hat er über die verschlungene diplomatische Action auch Zu¬ gang gesucht zu den für seine Zwecke wichtigsten Archiven von Holland, von England und in Berlin. Er gibt selbst an, daß für die Fortsetzung seines Geschichtswerkes auch die Pariser und Wiener Archive zu benutzen sein wer¬ den. Da er im Haag und in London in Besitz des wichtigsten Stoffes ge¬ langt zu sein hoffte, durfte er auf die späteren Bände die anderweitige Forschung aufschieben. Man könnte immer denken, daß zu etwaigen Modi- ficationen, vielleicht in Folge der Wiener Studien, sich Gelegenheit auch später bieten werde. Grenzboten II. 1871. 94

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/193>, abgerufen am 05.02.2025.