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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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zu lassen: mit vereinten Kräften würde der freche Eindringling Vertrieben oder
vertilgt werden. Was nun weiter die Angabe des "Auffressens" der Schwä¬
cheren betrifft, eine Angabe, die vielfach von Naturforschern Waterton nach¬
gesprochen ist, so muß auch diese in gelinden Zweifel gezogen werden. Kaum
darf man annehmen, daß die braune Ratte Millionen ihrer schwarzen Schwe¬
stern gefressen habe, um so mehr, da man weiß, daß es unter dem Ratten¬
geschlecht Sitte ist, alle Kranken und Alten der eignen Sippe zu verzehren.
Vielmehr ist- wahrscheinlich, daß die um ein Drittheil kleineren schwarzen
männlichen Thiere während der Brunstzeit von den großen braunen abge¬
bissen wurden, worauf die Sieger dann mit den schwarzen Damen davon¬
liefen, die nun in gegebener Zeit mit Halbblut niederkamen. Wenn dann
die junge Brut ihrerseits zur Maturität herangewachsen war, was in sieben
Monaten geschieht, so begatteten sie sich abermals mit den braunen, die Jun¬
gen wurden Heller und so fort während vieler Generationen, bis endlich die ganze
Brut aus Bollblutbraunen bestehen wird; während die schwarzen Ratten,
nachdem sie so lange, als die Natur ihnen erlaubt,' gelebt haben, zu eristiren
aufhören und so die Race allmälig ausstirbt. Hinsichtlich der Herkunft des
braunen wighistischen Eindringlings berichtet Dr. Carpenter in seiner Aus¬
gabe der Cuvier'schen Werke, daß die braune Ratte aus Persien stamme, wo
sie noch heute in Erdhöhlen Hause und erst 1737 in Folge eines Erdbebens
ihre Migration begonnen, die Wolga schwimmend überschritten und sich dann
über ganz Europa verbreitet habe. Krankheiten und Epidemien scheinen
nicht unter den englischen Ratten zu herrschen, ausgenommen eine, über welche
wir Menschenkinder so bitter zu klagen haben, die Freßsucht. Alle Ratten,
die uns zu Gesichte kommen, sind dick und fett und nichts deutet an ihnen
auf Krankheit. Nichts destoweniger sind sie die geschicktesten und durchgreifend¬
sten Allopathen der Welt, denn, sollten sie unter sich irgend ein Individuum
finden, das aussätzig, lendenlahm, oder mit irgend welcher Schwäche, möge
sie nun von Alter oder Krankheit herrühren, behaftet sei, so heilen sie alle
diese Krankheiten sofort dadurch, daß sie den Patienten mit Haut und Haar
verschlingen. Zu gleicher Zeit bilden die Ratten die friedlichste aller Republi¬
ken, denn sollte irgend ein innerer Streit, ein Kampf ausbrechen, so sammeln
sie sich um die Kämpfenden, und ohne Rücksicht auf Sieger oder Besiegten,
oder auf die Ursache des Streites, machen sie schnell der Fehde dadurch ein
Ende, daß sie die Duellanten in Stücke zerreißen und den Weg aller Speisen
wandeln lassen: auf diese Weise wird der Friede auf die schnellste und gründ¬
lichste Weise wieder hergestellt.

Die Zerstörungswuth der Ratte, ihre erstaunliche Fruchtbarkeit, ihre
Ubiquität, endlich ihre Hartnäckigkeit, da wieder aufzutauchen, wo sie vordem
schon gehaust, selbst auf die Gefahr hin, hier zerstört zu werden, alles dies


zu lassen: mit vereinten Kräften würde der freche Eindringling Vertrieben oder
vertilgt werden. Was nun weiter die Angabe des „Auffressens" der Schwä¬
cheren betrifft, eine Angabe, die vielfach von Naturforschern Waterton nach¬
gesprochen ist, so muß auch diese in gelinden Zweifel gezogen werden. Kaum
darf man annehmen, daß die braune Ratte Millionen ihrer schwarzen Schwe¬
stern gefressen habe, um so mehr, da man weiß, daß es unter dem Ratten¬
geschlecht Sitte ist, alle Kranken und Alten der eignen Sippe zu verzehren.
Vielmehr ist- wahrscheinlich, daß die um ein Drittheil kleineren schwarzen
männlichen Thiere während der Brunstzeit von den großen braunen abge¬
bissen wurden, worauf die Sieger dann mit den schwarzen Damen davon¬
liefen, die nun in gegebener Zeit mit Halbblut niederkamen. Wenn dann
die junge Brut ihrerseits zur Maturität herangewachsen war, was in sieben
Monaten geschieht, so begatteten sie sich abermals mit den braunen, die Jun¬
gen wurden Heller und so fort während vieler Generationen, bis endlich die ganze
Brut aus Bollblutbraunen bestehen wird; während die schwarzen Ratten,
nachdem sie so lange, als die Natur ihnen erlaubt,' gelebt haben, zu eristiren
aufhören und so die Race allmälig ausstirbt. Hinsichtlich der Herkunft des
braunen wighistischen Eindringlings berichtet Dr. Carpenter in seiner Aus¬
gabe der Cuvier'schen Werke, daß die braune Ratte aus Persien stamme, wo
sie noch heute in Erdhöhlen Hause und erst 1737 in Folge eines Erdbebens
ihre Migration begonnen, die Wolga schwimmend überschritten und sich dann
über ganz Europa verbreitet habe. Krankheiten und Epidemien scheinen
nicht unter den englischen Ratten zu herrschen, ausgenommen eine, über welche
wir Menschenkinder so bitter zu klagen haben, die Freßsucht. Alle Ratten,
die uns zu Gesichte kommen, sind dick und fett und nichts deutet an ihnen
auf Krankheit. Nichts destoweniger sind sie die geschicktesten und durchgreifend¬
sten Allopathen der Welt, denn, sollten sie unter sich irgend ein Individuum
finden, das aussätzig, lendenlahm, oder mit irgend welcher Schwäche, möge
sie nun von Alter oder Krankheit herrühren, behaftet sei, so heilen sie alle
diese Krankheiten sofort dadurch, daß sie den Patienten mit Haut und Haar
verschlingen. Zu gleicher Zeit bilden die Ratten die friedlichste aller Republi¬
ken, denn sollte irgend ein innerer Streit, ein Kampf ausbrechen, so sammeln
sie sich um die Kämpfenden, und ohne Rücksicht auf Sieger oder Besiegten,
oder auf die Ursache des Streites, machen sie schnell der Fehde dadurch ein
Ende, daß sie die Duellanten in Stücke zerreißen und den Weg aller Speisen
wandeln lassen: auf diese Weise wird der Friede auf die schnellste und gründ¬
lichste Weise wieder hergestellt.

Die Zerstörungswuth der Ratte, ihre erstaunliche Fruchtbarkeit, ihre
Ubiquität, endlich ihre Hartnäckigkeit, da wieder aufzutauchen, wo sie vordem
schon gehaust, selbst auf die Gefahr hin, hier zerstört zu werden, alles dies


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[0188] zu lassen: mit vereinten Kräften würde der freche Eindringling Vertrieben oder vertilgt werden. Was nun weiter die Angabe des „Auffressens" der Schwä¬ cheren betrifft, eine Angabe, die vielfach von Naturforschern Waterton nach¬ gesprochen ist, so muß auch diese in gelinden Zweifel gezogen werden. Kaum darf man annehmen, daß die braune Ratte Millionen ihrer schwarzen Schwe¬ stern gefressen habe, um so mehr, da man weiß, daß es unter dem Ratten¬ geschlecht Sitte ist, alle Kranken und Alten der eignen Sippe zu verzehren. Vielmehr ist- wahrscheinlich, daß die um ein Drittheil kleineren schwarzen männlichen Thiere während der Brunstzeit von den großen braunen abge¬ bissen wurden, worauf die Sieger dann mit den schwarzen Damen davon¬ liefen, die nun in gegebener Zeit mit Halbblut niederkamen. Wenn dann die junge Brut ihrerseits zur Maturität herangewachsen war, was in sieben Monaten geschieht, so begatteten sie sich abermals mit den braunen, die Jun¬ gen wurden Heller und so fort während vieler Generationen, bis endlich die ganze Brut aus Bollblutbraunen bestehen wird; während die schwarzen Ratten, nachdem sie so lange, als die Natur ihnen erlaubt,' gelebt haben, zu eristiren aufhören und so die Race allmälig ausstirbt. Hinsichtlich der Herkunft des braunen wighistischen Eindringlings berichtet Dr. Carpenter in seiner Aus¬ gabe der Cuvier'schen Werke, daß die braune Ratte aus Persien stamme, wo sie noch heute in Erdhöhlen Hause und erst 1737 in Folge eines Erdbebens ihre Migration begonnen, die Wolga schwimmend überschritten und sich dann über ganz Europa verbreitet habe. Krankheiten und Epidemien scheinen nicht unter den englischen Ratten zu herrschen, ausgenommen eine, über welche wir Menschenkinder so bitter zu klagen haben, die Freßsucht. Alle Ratten, die uns zu Gesichte kommen, sind dick und fett und nichts deutet an ihnen auf Krankheit. Nichts destoweniger sind sie die geschicktesten und durchgreifend¬ sten Allopathen der Welt, denn, sollten sie unter sich irgend ein Individuum finden, das aussätzig, lendenlahm, oder mit irgend welcher Schwäche, möge sie nun von Alter oder Krankheit herrühren, behaftet sei, so heilen sie alle diese Krankheiten sofort dadurch, daß sie den Patienten mit Haut und Haar verschlingen. Zu gleicher Zeit bilden die Ratten die friedlichste aller Republi¬ ken, denn sollte irgend ein innerer Streit, ein Kampf ausbrechen, so sammeln sie sich um die Kämpfenden, und ohne Rücksicht auf Sieger oder Besiegten, oder auf die Ursache des Streites, machen sie schnell der Fehde dadurch ein Ende, daß sie die Duellanten in Stücke zerreißen und den Weg aller Speisen wandeln lassen: auf diese Weise wird der Friede auf die schnellste und gründ¬ lichste Weise wieder hergestellt. Die Zerstörungswuth der Ratte, ihre erstaunliche Fruchtbarkeit, ihre Ubiquität, endlich ihre Hartnäckigkeit, da wieder aufzutauchen, wo sie vordem schon gehaust, selbst auf die Gefahr hin, hier zerstört zu werden, alles dies

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/188>, abgerufen am 05.02.2025.