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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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schlechter Kunstgriff, eine Sache, die sich weder von selbst versteht, noch be¬
weisbar ist, unter die selbstverständlichen Dinge aufzunehmen.

Als ob davon die Rede wäre, daß der Reichstag wochenlang in der
Stärke von 40 theilnehmenden Mitgliedern wichtige Geschäfte erledigen und
große Fragen berathen soll! Vielmehr die geringe Anzahl der zur Beschlu߬
fähigkeit erforderlichen Mitglieder ist das wirksamste Mittel, diejenigen Sitzun¬
gen, auf die etwas ankommt, voll zu machen. Unbedeutende Dinge, rein
formale Geschäfte können wahrlich von einer geringen Zahl erledigt werden,
ohne daß das Ansehen des Reichstags auch nur um einen Schatten vermin¬
dert wird. Was hätte es z. B. gethan, wenn die Wiederwahl des Präsi¬
diums, über die der ganze Reichstag einig war, von wenigen Anwesenden
wäre vorgenommen worden? Die Gewählten hätten ganz genau gewußt,
daß die Abwesenden nur darum abwesend waren, weil sie keinen anderen
Vorstand wünschten. Aber es ist eine harte, ungebührliche Zumuthung, daß
Mitglieder um eines rein formalen Geschäftes willen sich von wichtigen An¬
gelegenheiten drei Tage früher losreißen sollen, deren sie vielleicht unumgängig
bedürfen, um überhaupt ohne Schaden abkommen zu können. Was läßt
sich dagegen einwenden, daß die formalen oder untergeordneten Dinge von
denen allein besorgt werden, die gerade am abkömmlichsten sind? Ist
das deutsche Volk wirklich so pedantisch, daß es nichts mehr von sei¬
nem Reichstag hält, wenn derselbe einen Schriftführer oder auch mehrere
nicht nahezu in seiner Vollzahl gewählt hat; wenn er nicht in seiner
Vollzahl beschlossen hat, eine Frage wegen Ventilation des Sitzungöraumes
an irgend eine Stelle zu richten u. s. w.? Die Gefahr aber, bei wichtigen
Fragen überstimmt zu werden, wird die Parteidisciplin in Wünschenswerther
Weise schärfen. Die deutschen Abgeordneten werden sich daran gewöhnen, dem
Ruf des Parteivorstandes zu folgen und sich einzurichten, daß sie ihm folgen
können, was sie auch vornehmen mögen. Eine illoyale Ausbeutung der zu¬
fälligen numerischen Schwäche einer Partei durch die etwa anwesenden Gegner
muß durch die parlamentarische Sitte verhütet werden, Wir wären das letzte
aller Völker, wenn wir eine solche Sitte bei uns nicht einbürgern könnten.
Aber dergleichen Befürchtungen sind nur Selbstverleumdungen; gutmüthige
und ehrenhafte Loyalität ist ein Grundinstinct der deutschen Natur. Nichts
ist leichter, als daß der jedesmalige Präsident die Parteiführer verständigt,
wann eine wichtige Frage auf der Tagesordnung erscheinen soll. Diejenige
Partei, welche sich trotz rechtzeitiger Benachrichtigung am Tage der Abstimmung
lässig oder mangelhaft disciplinirt zeigt, unterliegt mit Recht. Die weitere
Correctur ist dann Sache der Wähler. Das Moralisiren aber, daß jeder
Abgeordnete auch bei den unbedeutendsten, wenn auch unumgänglichen Dingen
an seinem Theil die überflüssige Vollzahl herstellen soll, um das Ansehen des


schlechter Kunstgriff, eine Sache, die sich weder von selbst versteht, noch be¬
weisbar ist, unter die selbstverständlichen Dinge aufzunehmen.

Als ob davon die Rede wäre, daß der Reichstag wochenlang in der
Stärke von 40 theilnehmenden Mitgliedern wichtige Geschäfte erledigen und
große Fragen berathen soll! Vielmehr die geringe Anzahl der zur Beschlu߬
fähigkeit erforderlichen Mitglieder ist das wirksamste Mittel, diejenigen Sitzun¬
gen, auf die etwas ankommt, voll zu machen. Unbedeutende Dinge, rein
formale Geschäfte können wahrlich von einer geringen Zahl erledigt werden,
ohne daß das Ansehen des Reichstags auch nur um einen Schatten vermin¬
dert wird. Was hätte es z. B. gethan, wenn die Wiederwahl des Präsi¬
diums, über die der ganze Reichstag einig war, von wenigen Anwesenden
wäre vorgenommen worden? Die Gewählten hätten ganz genau gewußt,
daß die Abwesenden nur darum abwesend waren, weil sie keinen anderen
Vorstand wünschten. Aber es ist eine harte, ungebührliche Zumuthung, daß
Mitglieder um eines rein formalen Geschäftes willen sich von wichtigen An¬
gelegenheiten drei Tage früher losreißen sollen, deren sie vielleicht unumgängig
bedürfen, um überhaupt ohne Schaden abkommen zu können. Was läßt
sich dagegen einwenden, daß die formalen oder untergeordneten Dinge von
denen allein besorgt werden, die gerade am abkömmlichsten sind? Ist
das deutsche Volk wirklich so pedantisch, daß es nichts mehr von sei¬
nem Reichstag hält, wenn derselbe einen Schriftführer oder auch mehrere
nicht nahezu in seiner Vollzahl gewählt hat; wenn er nicht in seiner
Vollzahl beschlossen hat, eine Frage wegen Ventilation des Sitzungöraumes
an irgend eine Stelle zu richten u. s. w.? Die Gefahr aber, bei wichtigen
Fragen überstimmt zu werden, wird die Parteidisciplin in Wünschenswerther
Weise schärfen. Die deutschen Abgeordneten werden sich daran gewöhnen, dem
Ruf des Parteivorstandes zu folgen und sich einzurichten, daß sie ihm folgen
können, was sie auch vornehmen mögen. Eine illoyale Ausbeutung der zu¬
fälligen numerischen Schwäche einer Partei durch die etwa anwesenden Gegner
muß durch die parlamentarische Sitte verhütet werden, Wir wären das letzte
aller Völker, wenn wir eine solche Sitte bei uns nicht einbürgern könnten.
Aber dergleichen Befürchtungen sind nur Selbstverleumdungen; gutmüthige
und ehrenhafte Loyalität ist ein Grundinstinct der deutschen Natur. Nichts
ist leichter, als daß der jedesmalige Präsident die Parteiführer verständigt,
wann eine wichtige Frage auf der Tagesordnung erscheinen soll. Diejenige
Partei, welche sich trotz rechtzeitiger Benachrichtigung am Tage der Abstimmung
lässig oder mangelhaft disciplinirt zeigt, unterliegt mit Recht. Die weitere
Correctur ist dann Sache der Wähler. Das Moralisiren aber, daß jeder
Abgeordnete auch bei den unbedeutendsten, wenn auch unumgänglichen Dingen
an seinem Theil die überflüssige Vollzahl herstellen soll, um das Ansehen des


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[0163] schlechter Kunstgriff, eine Sache, die sich weder von selbst versteht, noch be¬ weisbar ist, unter die selbstverständlichen Dinge aufzunehmen. Als ob davon die Rede wäre, daß der Reichstag wochenlang in der Stärke von 40 theilnehmenden Mitgliedern wichtige Geschäfte erledigen und große Fragen berathen soll! Vielmehr die geringe Anzahl der zur Beschlu߬ fähigkeit erforderlichen Mitglieder ist das wirksamste Mittel, diejenigen Sitzun¬ gen, auf die etwas ankommt, voll zu machen. Unbedeutende Dinge, rein formale Geschäfte können wahrlich von einer geringen Zahl erledigt werden, ohne daß das Ansehen des Reichstags auch nur um einen Schatten vermin¬ dert wird. Was hätte es z. B. gethan, wenn die Wiederwahl des Präsi¬ diums, über die der ganze Reichstag einig war, von wenigen Anwesenden wäre vorgenommen worden? Die Gewählten hätten ganz genau gewußt, daß die Abwesenden nur darum abwesend waren, weil sie keinen anderen Vorstand wünschten. Aber es ist eine harte, ungebührliche Zumuthung, daß Mitglieder um eines rein formalen Geschäftes willen sich von wichtigen An¬ gelegenheiten drei Tage früher losreißen sollen, deren sie vielleicht unumgängig bedürfen, um überhaupt ohne Schaden abkommen zu können. Was läßt sich dagegen einwenden, daß die formalen oder untergeordneten Dinge von denen allein besorgt werden, die gerade am abkömmlichsten sind? Ist das deutsche Volk wirklich so pedantisch, daß es nichts mehr von sei¬ nem Reichstag hält, wenn derselbe einen Schriftführer oder auch mehrere nicht nahezu in seiner Vollzahl gewählt hat; wenn er nicht in seiner Vollzahl beschlossen hat, eine Frage wegen Ventilation des Sitzungöraumes an irgend eine Stelle zu richten u. s. w.? Die Gefahr aber, bei wichtigen Fragen überstimmt zu werden, wird die Parteidisciplin in Wünschenswerther Weise schärfen. Die deutschen Abgeordneten werden sich daran gewöhnen, dem Ruf des Parteivorstandes zu folgen und sich einzurichten, daß sie ihm folgen können, was sie auch vornehmen mögen. Eine illoyale Ausbeutung der zu¬ fälligen numerischen Schwäche einer Partei durch die etwa anwesenden Gegner muß durch die parlamentarische Sitte verhütet werden, Wir wären das letzte aller Völker, wenn wir eine solche Sitte bei uns nicht einbürgern könnten. Aber dergleichen Befürchtungen sind nur Selbstverleumdungen; gutmüthige und ehrenhafte Loyalität ist ein Grundinstinct der deutschen Natur. Nichts ist leichter, als daß der jedesmalige Präsident die Parteiführer verständigt, wann eine wichtige Frage auf der Tagesordnung erscheinen soll. Diejenige Partei, welche sich trotz rechtzeitiger Benachrichtigung am Tage der Abstimmung lässig oder mangelhaft disciplinirt zeigt, unterliegt mit Recht. Die weitere Correctur ist dann Sache der Wähler. Das Moralisiren aber, daß jeder Abgeordnete auch bei den unbedeutendsten, wenn auch unumgänglichen Dingen an seinem Theil die überflüssige Vollzahl herstellen soll, um das Ansehen des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/163>, abgerufen am 05.02.2025.