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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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kein Bismarck entgegentrat. Die Ueberlegenheit dieses Letztern wird freilich
dadurch noch mehr in's Licht gestellt, je mehr sein Gegner an Bedeutung ge-
^wirrt. Die Veröffentlichungen der Benedetti'schen Actenstücke liefern überdies
einen weiteren Beweis, daß Graf Bismarck Frankreich keine Compensationen
angeboten hat. Ueber diesen Punkt ist jetzt auch für den hartnäckigsten Geg¬
ner der Bismarck'schen Politik, wenn er nur nicht absichtlich die Augen
schließt, kein Zweifel mehr möglich Als am 23. Juli vorigen Jahres die
Times den von Benedetti niedergesehriebenen Vertragsentwurf veröffentlichte,
der Napoleon's Begehrlichkeit unzweifelhaft belegte, wiegte sich die neu¬
trale Diplomatie und ein großer Theil der neutralen Presse in der bequem¬
sten Ungläubigkeit. Man hatte kein Urtheil über die Sache' und hütete sich,
die französischen Ableugnungen näher zu untersuchen. Jetzt hat die Inä6-
xonäMeo, welche damals auch neutral war, den Verdruß, Actenstücke ver¬
öffentlichen zu müssen, welche beweisen, daß der Kaiser Napoleon nicht nur durch
seine Diplomaten annexionistische Politik trieb, sondern sich selbst mit einem
obscurer belgischen Literaten einließ, der ihm Aussichten auf die Annexion
Belgiens machte. Jetzt wird freilich alle Schuld auf den Kaiser Napoleon
geschoben und die Behandlung, die ihm zu Theil wird, erinnert an die Fabel
vom todten Löwen. In Deutschland wenigstens weiß man, daß die an¬
nexionistische Politik Napoleon's die vollste Billigung der ungeheuern Mehr¬
heit des französischen Volkes hatte und die Belgier könnten allenfalls
auch wissen, daß die Republik in Frankreich über die Mehrung des Reiches
gerade so denkt, wie die Kaiser und Könige.

Die Ereignisse in Oestreich erregen hier, wie begreiflich, steigende Aufmerk¬
samkeit und das große Publicum sympathisirt lebhaft mit den Deutschen, wäh¬
rend die Regierung die absoluteste Zurückhaltung beobachtet. Angenehm freilich,
mögen ihr die Ereignisse in Oestreich nicht sein, aber abgesehen davon, daß die
Entscheidung noch nicht gefallen ist, und daß sie immer noch eben so gut nach der
einen, wie nach der andern Seite fallen kann, ist auch die deutsche Regierung
gänzlich außer Stande, irgend eine Einwirkung auf Oestreich auszuüben, möge
dort geschehen, was wolle. Dies ist so einleuchtend, daß jede Sympathie-
bezeigung von deutscher Seite für die Deutschen in Oestreich eine Gedanken"
losigkeit ist, denn einen praktischen Erfolg kann sie nicht haben.


-- o. U. -


kein Bismarck entgegentrat. Die Ueberlegenheit dieses Letztern wird freilich
dadurch noch mehr in's Licht gestellt, je mehr sein Gegner an Bedeutung ge-
^wirrt. Die Veröffentlichungen der Benedetti'schen Actenstücke liefern überdies
einen weiteren Beweis, daß Graf Bismarck Frankreich keine Compensationen
angeboten hat. Ueber diesen Punkt ist jetzt auch für den hartnäckigsten Geg¬
ner der Bismarck'schen Politik, wenn er nur nicht absichtlich die Augen
schließt, kein Zweifel mehr möglich Als am 23. Juli vorigen Jahres die
Times den von Benedetti niedergesehriebenen Vertragsentwurf veröffentlichte,
der Napoleon's Begehrlichkeit unzweifelhaft belegte, wiegte sich die neu¬
trale Diplomatie und ein großer Theil der neutralen Presse in der bequem¬
sten Ungläubigkeit. Man hatte kein Urtheil über die Sache' und hütete sich,
die französischen Ableugnungen näher zu untersuchen. Jetzt hat die Inä6-
xonäMeo, welche damals auch neutral war, den Verdruß, Actenstücke ver¬
öffentlichen zu müssen, welche beweisen, daß der Kaiser Napoleon nicht nur durch
seine Diplomaten annexionistische Politik trieb, sondern sich selbst mit einem
obscurer belgischen Literaten einließ, der ihm Aussichten auf die Annexion
Belgiens machte. Jetzt wird freilich alle Schuld auf den Kaiser Napoleon
geschoben und die Behandlung, die ihm zu Theil wird, erinnert an die Fabel
vom todten Löwen. In Deutschland wenigstens weiß man, daß die an¬
nexionistische Politik Napoleon's die vollste Billigung der ungeheuern Mehr¬
heit des französischen Volkes hatte und die Belgier könnten allenfalls
auch wissen, daß die Republik in Frankreich über die Mehrung des Reiches
gerade so denkt, wie die Kaiser und Könige.

Die Ereignisse in Oestreich erregen hier, wie begreiflich, steigende Aufmerk¬
samkeit und das große Publicum sympathisirt lebhaft mit den Deutschen, wäh¬
rend die Regierung die absoluteste Zurückhaltung beobachtet. Angenehm freilich,
mögen ihr die Ereignisse in Oestreich nicht sein, aber abgesehen davon, daß die
Entscheidung noch nicht gefallen ist, und daß sie immer noch eben so gut nach der
einen, wie nach der andern Seite fallen kann, ist auch die deutsche Regierung
gänzlich außer Stande, irgend eine Einwirkung auf Oestreich auszuüben, möge
dort geschehen, was wolle. Dies ist so einleuchtend, daß jede Sympathie-
bezeigung von deutscher Seite für die Deutschen in Oestreich eine Gedanken"
losigkeit ist, denn einen praktischen Erfolg kann sie nicht haben.


— o. U. -


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[0122] kein Bismarck entgegentrat. Die Ueberlegenheit dieses Letztern wird freilich dadurch noch mehr in's Licht gestellt, je mehr sein Gegner an Bedeutung ge- ^wirrt. Die Veröffentlichungen der Benedetti'schen Actenstücke liefern überdies einen weiteren Beweis, daß Graf Bismarck Frankreich keine Compensationen angeboten hat. Ueber diesen Punkt ist jetzt auch für den hartnäckigsten Geg¬ ner der Bismarck'schen Politik, wenn er nur nicht absichtlich die Augen schließt, kein Zweifel mehr möglich Als am 23. Juli vorigen Jahres die Times den von Benedetti niedergesehriebenen Vertragsentwurf veröffentlichte, der Napoleon's Begehrlichkeit unzweifelhaft belegte, wiegte sich die neu¬ trale Diplomatie und ein großer Theil der neutralen Presse in der bequem¬ sten Ungläubigkeit. Man hatte kein Urtheil über die Sache' und hütete sich, die französischen Ableugnungen näher zu untersuchen. Jetzt hat die Inä6- xonäMeo, welche damals auch neutral war, den Verdruß, Actenstücke ver¬ öffentlichen zu müssen, welche beweisen, daß der Kaiser Napoleon nicht nur durch seine Diplomaten annexionistische Politik trieb, sondern sich selbst mit einem obscurer belgischen Literaten einließ, der ihm Aussichten auf die Annexion Belgiens machte. Jetzt wird freilich alle Schuld auf den Kaiser Napoleon geschoben und die Behandlung, die ihm zu Theil wird, erinnert an die Fabel vom todten Löwen. In Deutschland wenigstens weiß man, daß die an¬ nexionistische Politik Napoleon's die vollste Billigung der ungeheuern Mehr¬ heit des französischen Volkes hatte und die Belgier könnten allenfalls auch wissen, daß die Republik in Frankreich über die Mehrung des Reiches gerade so denkt, wie die Kaiser und Könige. Die Ereignisse in Oestreich erregen hier, wie begreiflich, steigende Aufmerk¬ samkeit und das große Publicum sympathisirt lebhaft mit den Deutschen, wäh¬ rend die Regierung die absoluteste Zurückhaltung beobachtet. Angenehm freilich, mögen ihr die Ereignisse in Oestreich nicht sein, aber abgesehen davon, daß die Entscheidung noch nicht gefallen ist, und daß sie immer noch eben so gut nach der einen, wie nach der andern Seite fallen kann, ist auch die deutsche Regierung gänzlich außer Stande, irgend eine Einwirkung auf Oestreich auszuüben, möge dort geschehen, was wolle. Dies ist so einleuchtend, daß jede Sympathie- bezeigung von deutscher Seite für die Deutschen in Oestreich eine Gedanken" losigkeit ist, denn einen praktischen Erfolg kann sie nicht haben. — o. U. -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/122>, abgerufen am 05.02.2025.