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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Hat der Dichter nun seinerseits das Nöthige gethan, daß die Nach¬
welt der großen Leistung des jungen Kritikers immer hinreichend gedenk blieb?
Wenn er in Wahrheit und Dichtung mit der rechten liebevollen Wärme dem
verdienstvollen Lehrer die gebührende Anerkennung zu Theil werden ließ, so
war keine Gefahr, daß Herder's Name je in Vergessenheit kam, daß ihm je
die zukömmliche Ehre versagt ward. Denn wo gibt es einen Bericht über
die literarischen Zustände des vorigen Jahrhunderts, der auch nur annähernd
so viel Leser hätte als Goethe's Konfessionen; man kann, glaube ich, sagen,
sie halten ganz allein allen andern Darstellungen zusammen die Wage.

Wunderlich aber ist, wie Goethe hier mit Herder verfährt. Man kann
nicht behaupten, daß geradezu übergangen wäre, welche neuen Erkenntnisse
ihm plötzlich durch Herder geöffnet wurden: Es verging kein Tag, "der nicht
auf das fruchtbarste lehrreich für mich gewesen wäre. Ich ward mit der Poesie
in einem ganz andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen,
der mir mehr zusagte. Die hebräische Dichtkunst, die Volkspoesie, die älte¬
sten Urkunden als Poesie geben das Zeugniß, daß die Dichtkunst überhaupt
eine Welt- und Vvlkergabe sei, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen gebil¬
deten Männer. Ich verschlang das Alles; und je heftiger ich im Empfangen,
desto freigebiger war er im Geben, und wir brachten die interessantesten
Stunden zusammen zu."

Wie kühl und gedämpft! -- und für den nicht sonsther Orientirten ziem¬
lich dunkel, fast orakulös. Jedenfalls nicht anreizend, aus dem Dickicht und
Gestrüpp der wundersam geordneten Werke Herder's sich die Schriften zusam¬
menzusuchen, welche näheren Aufschluß geben würden.

Und diese kurzen, in äußerst gelassenen Ton, im Ton der "vornehmen
Römer" vorgetragenen Bemerkungen sind unter einer solchen Menge aus¬
stellender, ja herabsetzender Mittheilungen wie verschüttet, daß es leichthin
streifenden Lesern passiren kann, sie über den andern ganz zu vergessen und
von Herder wirklich das Bild eines "gutmüthigen Polterers" mitzunehmen.
Wie Goethe ihn nennt, eines Polterers, der dem jugendlichen Dichter in pe¬
dantischen Ernst seine unschuldige Siegelsammlung, seine Neigung für Ovid's
Verwandlungen zu verleiden suchte, der sich nicht bloß über das unbenutzte
Bücherbrett, sondern auch über seinen Familiennamen ganz unzarte Scherze
Glaubte, der von seiner stolzen Höhe herab den treuherzig anschmiegsamen
Studenten in stets widersprechenden, bitterm, bissigen Humor mißhandelte,
der selbst, wenn jener feinen Ansichten zustimmte, in unausstehlicher Launen¬
haftigkeit ihn schalt, aufzog und herunterriß.

Und diesem Bilde gegenüber was war ihm Herder wirklich gewesen!

Und was hat er weit über die an dem Dichter sichtbaren Wirkungen
hinaus der ganzen Nation geleistet! Aus den von ihm in sprudelnder


Hat der Dichter nun seinerseits das Nöthige gethan, daß die Nach¬
welt der großen Leistung des jungen Kritikers immer hinreichend gedenk blieb?
Wenn er in Wahrheit und Dichtung mit der rechten liebevollen Wärme dem
verdienstvollen Lehrer die gebührende Anerkennung zu Theil werden ließ, so
war keine Gefahr, daß Herder's Name je in Vergessenheit kam, daß ihm je
die zukömmliche Ehre versagt ward. Denn wo gibt es einen Bericht über
die literarischen Zustände des vorigen Jahrhunderts, der auch nur annähernd
so viel Leser hätte als Goethe's Konfessionen; man kann, glaube ich, sagen,
sie halten ganz allein allen andern Darstellungen zusammen die Wage.

Wunderlich aber ist, wie Goethe hier mit Herder verfährt. Man kann
nicht behaupten, daß geradezu übergangen wäre, welche neuen Erkenntnisse
ihm plötzlich durch Herder geöffnet wurden: Es verging kein Tag, „der nicht
auf das fruchtbarste lehrreich für mich gewesen wäre. Ich ward mit der Poesie
in einem ganz andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen,
der mir mehr zusagte. Die hebräische Dichtkunst, die Volkspoesie, die älte¬
sten Urkunden als Poesie geben das Zeugniß, daß die Dichtkunst überhaupt
eine Welt- und Vvlkergabe sei, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen gebil¬
deten Männer. Ich verschlang das Alles; und je heftiger ich im Empfangen,
desto freigebiger war er im Geben, und wir brachten die interessantesten
Stunden zusammen zu."

Wie kühl und gedämpft! — und für den nicht sonsther Orientirten ziem¬
lich dunkel, fast orakulös. Jedenfalls nicht anreizend, aus dem Dickicht und
Gestrüpp der wundersam geordneten Werke Herder's sich die Schriften zusam¬
menzusuchen, welche näheren Aufschluß geben würden.

Und diese kurzen, in äußerst gelassenen Ton, im Ton der „vornehmen
Römer" vorgetragenen Bemerkungen sind unter einer solchen Menge aus¬
stellender, ja herabsetzender Mittheilungen wie verschüttet, daß es leichthin
streifenden Lesern passiren kann, sie über den andern ganz zu vergessen und
von Herder wirklich das Bild eines „gutmüthigen Polterers" mitzunehmen.
Wie Goethe ihn nennt, eines Polterers, der dem jugendlichen Dichter in pe¬
dantischen Ernst seine unschuldige Siegelsammlung, seine Neigung für Ovid's
Verwandlungen zu verleiden suchte, der sich nicht bloß über das unbenutzte
Bücherbrett, sondern auch über seinen Familiennamen ganz unzarte Scherze
Glaubte, der von seiner stolzen Höhe herab den treuherzig anschmiegsamen
Studenten in stets widersprechenden, bitterm, bissigen Humor mißhandelte,
der selbst, wenn jener feinen Ansichten zustimmte, in unausstehlicher Launen¬
haftigkeit ihn schalt, aufzog und herunterriß.

Und diesem Bilde gegenüber was war ihm Herder wirklich gewesen!

Und was hat er weit über die an dem Dichter sichtbaren Wirkungen
hinaus der ganzen Nation geleistet! Aus den von ihm in sprudelnder


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[0109] Hat der Dichter nun seinerseits das Nöthige gethan, daß die Nach¬ welt der großen Leistung des jungen Kritikers immer hinreichend gedenk blieb? Wenn er in Wahrheit und Dichtung mit der rechten liebevollen Wärme dem verdienstvollen Lehrer die gebührende Anerkennung zu Theil werden ließ, so war keine Gefahr, daß Herder's Name je in Vergessenheit kam, daß ihm je die zukömmliche Ehre versagt ward. Denn wo gibt es einen Bericht über die literarischen Zustände des vorigen Jahrhunderts, der auch nur annähernd so viel Leser hätte als Goethe's Konfessionen; man kann, glaube ich, sagen, sie halten ganz allein allen andern Darstellungen zusammen die Wage. Wunderlich aber ist, wie Goethe hier mit Herder verfährt. Man kann nicht behaupten, daß geradezu übergangen wäre, welche neuen Erkenntnisse ihm plötzlich durch Herder geöffnet wurden: Es verging kein Tag, „der nicht auf das fruchtbarste lehrreich für mich gewesen wäre. Ich ward mit der Poesie in einem ganz andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir mehr zusagte. Die hebräische Dichtkunst, die Volkspoesie, die älte¬ sten Urkunden als Poesie geben das Zeugniß, daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Vvlkergabe sei, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen gebil¬ deten Männer. Ich verschlang das Alles; und je heftiger ich im Empfangen, desto freigebiger war er im Geben, und wir brachten die interessantesten Stunden zusammen zu." Wie kühl und gedämpft! — und für den nicht sonsther Orientirten ziem¬ lich dunkel, fast orakulös. Jedenfalls nicht anreizend, aus dem Dickicht und Gestrüpp der wundersam geordneten Werke Herder's sich die Schriften zusam¬ menzusuchen, welche näheren Aufschluß geben würden. Und diese kurzen, in äußerst gelassenen Ton, im Ton der „vornehmen Römer" vorgetragenen Bemerkungen sind unter einer solchen Menge aus¬ stellender, ja herabsetzender Mittheilungen wie verschüttet, daß es leichthin streifenden Lesern passiren kann, sie über den andern ganz zu vergessen und von Herder wirklich das Bild eines „gutmüthigen Polterers" mitzunehmen. Wie Goethe ihn nennt, eines Polterers, der dem jugendlichen Dichter in pe¬ dantischen Ernst seine unschuldige Siegelsammlung, seine Neigung für Ovid's Verwandlungen zu verleiden suchte, der sich nicht bloß über das unbenutzte Bücherbrett, sondern auch über seinen Familiennamen ganz unzarte Scherze Glaubte, der von seiner stolzen Höhe herab den treuherzig anschmiegsamen Studenten in stets widersprechenden, bitterm, bissigen Humor mißhandelte, der selbst, wenn jener feinen Ansichten zustimmte, in unausstehlicher Launen¬ haftigkeit ihn schalt, aufzog und herunterriß. Und diesem Bilde gegenüber was war ihm Herder wirklich gewesen! Und was hat er weit über die an dem Dichter sichtbaren Wirkungen hinaus der ganzen Nation geleistet! Aus den von ihm in sprudelnder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/109>, abgerufen am 05.02.2025.