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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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anregte, und zwar in der Richtung der dem Liede gleichsam immanenten In¬
tentionen weit hinausgehoben.

"Aus der mündlichen Sage" veröffentlichte Herder in seinen Volksliedern
das "Röschen auf der Haide"; es war ihm schon in Straßburg bekannt.


Es sah ein Knab' ein Röslein stehn --
Der Knabe sprach: ich breche Dich --
Doch der wilde Knabe brach
Das Röslein auf der Handen,
Röslein wehrte sich und stach;
Aber er vergaß danach
Beim Genuß der Leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Hciidm.

Herder hat: "Es sah", "Der Knabe", "Das Röslein" Goethe führt leise,
fast unbemerkt und zart den von Herder in dem 10. Briefe über Ossian.
hervorgehobenen "Vorschlag" ein, der dem Hauptwort weit mehr "poetische
Substantialität und Persönlichkeit" verleiht: 'Sah (Sah), 'Knabe (Knabe)
sprach, 's Röslein oder 'Röslein (Röslein) sprach. Die Schlußstrophe heißt
danach bekanntlich bei Goethe:


Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Haiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt' es eben leiden.
Röslein u. s. w.

Und wenn Herder von dem Volkslied "Kinderton" verlangte, was ist mehr
Kinderton, das schroffe logische "Doch" oder das treuherzig sabulirende "Und" ?

Und wichtiger als alles dies: die Umänderung am Ende, wie hält sie
Alles einfach und einheitlich bei der traurigen Geschichte vom armen Röslein,
das nun eben zu schwach ist, Gewaltthat zu wehren: und war doch "so
jung und morgenschön" (Herder: so frisch und schön); stimmt's nicht zu kind¬
licher Wehmuth? Das Volkslied stört mit seinem Ausgang das Interesse,
das durch den Refrain fest und bestimmt dem Röslein zugewandt ist. Der
Goethe'sche Schluß stellt die Einheit der Empfindung, die lyrische Grund¬
stimmung wieder her. Und hingehaucht, sanft verschwebend und verklingend
dieser neue Schluß! wie täppisch und fast sinnlich roh das "Volkslied" selbst.
Durch wenige Striche ist es von dem sinnig nachfühlenden Dichter erst auf
die Höhe gehoben, die der Idee noch vorschwebte, die Herder richtig bezeichnet
hatte; Goethe hat es erst vollendet und zu sich selbst gebracht.

Was verdankt der Hochbegnadigte Mensch dem Lehrer? Er stellte ihn
so, daß er seinen Genius rein und frei gewähren lassen konnte; er gab ihm


anregte, und zwar in der Richtung der dem Liede gleichsam immanenten In¬
tentionen weit hinausgehoben.

„Aus der mündlichen Sage" veröffentlichte Herder in seinen Volksliedern
das „Röschen auf der Haide"; es war ihm schon in Straßburg bekannt.


Es sah ein Knab' ein Röslein stehn —
Der Knabe sprach: ich breche Dich —
Doch der wilde Knabe brach
Das Röslein auf der Handen,
Röslein wehrte sich und stach;
Aber er vergaß danach
Beim Genuß der Leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Hciidm.

Herder hat: „Es sah", „Der Knabe", „Das Röslein" Goethe führt leise,
fast unbemerkt und zart den von Herder in dem 10. Briefe über Ossian.
hervorgehobenen „Vorschlag" ein, der dem Hauptwort weit mehr „poetische
Substantialität und Persönlichkeit" verleiht: 'Sah (Sah), 'Knabe (Knabe)
sprach, 's Röslein oder 'Röslein (Röslein) sprach. Die Schlußstrophe heißt
danach bekanntlich bei Goethe:


Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Haiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt' es eben leiden.
Röslein u. s. w.

Und wenn Herder von dem Volkslied „Kinderton" verlangte, was ist mehr
Kinderton, das schroffe logische „Doch" oder das treuherzig sabulirende „Und" ?

Und wichtiger als alles dies: die Umänderung am Ende, wie hält sie
Alles einfach und einheitlich bei der traurigen Geschichte vom armen Röslein,
das nun eben zu schwach ist, Gewaltthat zu wehren: und war doch „so
jung und morgenschön" (Herder: so frisch und schön); stimmt's nicht zu kind¬
licher Wehmuth? Das Volkslied stört mit seinem Ausgang das Interesse,
das durch den Refrain fest und bestimmt dem Röslein zugewandt ist. Der
Goethe'sche Schluß stellt die Einheit der Empfindung, die lyrische Grund¬
stimmung wieder her. Und hingehaucht, sanft verschwebend und verklingend
dieser neue Schluß! wie täppisch und fast sinnlich roh das „Volkslied" selbst.
Durch wenige Striche ist es von dem sinnig nachfühlenden Dichter erst auf
die Höhe gehoben, die der Idee noch vorschwebte, die Herder richtig bezeichnet
hatte; Goethe hat es erst vollendet und zu sich selbst gebracht.

Was verdankt der Hochbegnadigte Mensch dem Lehrer? Er stellte ihn
so, daß er seinen Genius rein und frei gewähren lassen konnte; er gab ihm


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[0103] anregte, und zwar in der Richtung der dem Liede gleichsam immanenten In¬ tentionen weit hinausgehoben. „Aus der mündlichen Sage" veröffentlichte Herder in seinen Volksliedern das „Röschen auf der Haide"; es war ihm schon in Straßburg bekannt. Es sah ein Knab' ein Röslein stehn — Der Knabe sprach: ich breche Dich — Doch der wilde Knabe brach Das Röslein auf der Handen, Röslein wehrte sich und stach; Aber er vergaß danach Beim Genuß der Leiden. Röslein, Röslein, Röslein roth, Röslein auf der Hciidm. Herder hat: „Es sah", „Der Knabe", „Das Röslein" Goethe führt leise, fast unbemerkt und zart den von Herder in dem 10. Briefe über Ossian. hervorgehobenen „Vorschlag" ein, der dem Hauptwort weit mehr „poetische Substantialität und Persönlichkeit" verleiht: 'Sah (Sah), 'Knabe (Knabe) sprach, 's Röslein oder 'Röslein (Röslein) sprach. Die Schlußstrophe heißt danach bekanntlich bei Goethe: Und der wilde Knabe brach 's Röslein auf der Haiden; Röslein wehrte sich und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden. Röslein u. s. w. Und wenn Herder von dem Volkslied „Kinderton" verlangte, was ist mehr Kinderton, das schroffe logische „Doch" oder das treuherzig sabulirende „Und" ? Und wichtiger als alles dies: die Umänderung am Ende, wie hält sie Alles einfach und einheitlich bei der traurigen Geschichte vom armen Röslein, das nun eben zu schwach ist, Gewaltthat zu wehren: und war doch „so jung und morgenschön" (Herder: so frisch und schön); stimmt's nicht zu kind¬ licher Wehmuth? Das Volkslied stört mit seinem Ausgang das Interesse, das durch den Refrain fest und bestimmt dem Röslein zugewandt ist. Der Goethe'sche Schluß stellt die Einheit der Empfindung, die lyrische Grund¬ stimmung wieder her. Und hingehaucht, sanft verschwebend und verklingend dieser neue Schluß! wie täppisch und fast sinnlich roh das „Volkslied" selbst. Durch wenige Striche ist es von dem sinnig nachfühlenden Dichter erst auf die Höhe gehoben, die der Idee noch vorschwebte, die Herder richtig bezeichnet hatte; Goethe hat es erst vollendet und zu sich selbst gebracht. Was verdankt der Hochbegnadigte Mensch dem Lehrer? Er stellte ihn so, daß er seinen Genius rein und frei gewähren lassen konnte; er gab ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/103>, abgerufen am 05.02.2025.