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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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1770 auf 1771 zu Straßburg mit Goethe zusammen war, hat er Alles, was
er nachher breiter in Schriften ausgeführt hat, im Wesentlichen dem jungen
Studenten mündlich dargelegt und eindringlich gemacht. Seine lesenden Jün¬
ger waren namentlich bestimmt durch die "Fragmente" vom Jahre 1766 und
1767, und durch die "Briefe über Ossian und die Lieder alter Völker" vom
Jahre 1773 (in den Blättern von deutscher Art und Kunst.)

Was war das Neue, durch welches Herder eine ganz neue Periode
deutscher Lyrik inaugurirte?

Herder's Angriffe richten sich rundweg gegen alle Gelehrsamkeit und
Nachahmung, gegen alle Correctheit und Classicität; er fordert
laut und leidenschaftlich Freiheit und Originalität, Natur undVolks-
thümlichkeit; überall Emanzipation von Kunst und Regeln auf dem
Gebiet der Sprache, der Metrik, wie des ganzen Tons und Ablaufs
der Gedichte.

Erstens in der Sprache! In allen möglichen Variationen seiner eigen¬
thümlich sprudelnden, kecken Sprache gießt er Spott und Hohn aus über
die "Wortgrübler, Schulmeister, Regelnschmiede", über die "Pedanten der
Reinigkeit und des Ueblichen", über die "Großsiegelbewahrer der Keuschheit
der Sprache", die uns bannen wollen unter das Ceremonie!! und die "Scla¬
verei des Geziemenden", die mit ihrer Forderung eines "reingewässerten, regel¬
mäßigen, geläufigen Stils", mit der ausschließlichen Betonung der "Deutlich¬
keit" in der Sprache eine solche Langeweile, solchen Bücher-, Katheder- und
Studirstubenton, solchen Professor- und Paragraphenstil eingeführt haben,
daß Natur, Freiheit und Laune des Ausdrucks wie eingesargt erscheinen. Er
fordert Leichtigkeit, Beweglichkeit, Sinnlichkeit, Idiotismen!

Man empfiehlt uns die Sprache durch Uebersetzungen zu heben und zu
bereichern. "Die Sprache hat größere Vorzüge, die sich von Uebersetzungen
bewahrt." Man regelt und ordnet die deutsche Wortstellung nach der logi¬
schen Taktik der französischen. Diese "metaphysische" Ordnung ist für das
poetische Genie ein Fluch. Die französische Sprache selbst ist zur Musik elend;
sie ist wässerig, nervenlos, unharmonisch für die Poesie. -- Sogar die Schwei¬
zer hatten gemeint, daß die Sprache nicht eher zur Vollkommenheit gelange,
ehe nicht philosophische Köpfe die Bedeutungen der Wörter in ihren Schran¬
ken völlig festsetzen und die Sprache mit neuen Wörtern für bisher nicht hin¬
länglich signirte Begriffe bereichern würden. Herder: Die philosophische Be¬
richtigung gemeiner Rede führt zu einer für Poesie völlig untauglichen, trocke¬
nen, einförmigen Sprache. Wir sind Menschen ehe wir Weltweise werden.
Nicht die Leibnitz und Wolf sind es, welche eine Sprache bereichern und ver¬
vollkommnen, sondern sprach gewaltige, kräftig fühlende, von dem eigenthüm¬
lichen Geist der Nation lebhaft durchdrungene Genies, wie Luther und


1770 auf 1771 zu Straßburg mit Goethe zusammen war, hat er Alles, was
er nachher breiter in Schriften ausgeführt hat, im Wesentlichen dem jungen
Studenten mündlich dargelegt und eindringlich gemacht. Seine lesenden Jün¬
ger waren namentlich bestimmt durch die „Fragmente" vom Jahre 1766 und
1767, und durch die „Briefe über Ossian und die Lieder alter Völker" vom
Jahre 1773 (in den Blättern von deutscher Art und Kunst.)

Was war das Neue, durch welches Herder eine ganz neue Periode
deutscher Lyrik inaugurirte?

Herder's Angriffe richten sich rundweg gegen alle Gelehrsamkeit und
Nachahmung, gegen alle Correctheit und Classicität; er fordert
laut und leidenschaftlich Freiheit und Originalität, Natur undVolks-
thümlichkeit; überall Emanzipation von Kunst und Regeln auf dem
Gebiet der Sprache, der Metrik, wie des ganzen Tons und Ablaufs
der Gedichte.

Erstens in der Sprache! In allen möglichen Variationen seiner eigen¬
thümlich sprudelnden, kecken Sprache gießt er Spott und Hohn aus über
die „Wortgrübler, Schulmeister, Regelnschmiede", über die „Pedanten der
Reinigkeit und des Ueblichen", über die „Großsiegelbewahrer der Keuschheit
der Sprache", die uns bannen wollen unter das Ceremonie!! und die „Scla¬
verei des Geziemenden", die mit ihrer Forderung eines „reingewässerten, regel¬
mäßigen, geläufigen Stils", mit der ausschließlichen Betonung der „Deutlich¬
keit" in der Sprache eine solche Langeweile, solchen Bücher-, Katheder- und
Studirstubenton, solchen Professor- und Paragraphenstil eingeführt haben,
daß Natur, Freiheit und Laune des Ausdrucks wie eingesargt erscheinen. Er
fordert Leichtigkeit, Beweglichkeit, Sinnlichkeit, Idiotismen!

Man empfiehlt uns die Sprache durch Uebersetzungen zu heben und zu
bereichern. „Die Sprache hat größere Vorzüge, die sich von Uebersetzungen
bewahrt." Man regelt und ordnet die deutsche Wortstellung nach der logi¬
schen Taktik der französischen. Diese „metaphysische" Ordnung ist für das
poetische Genie ein Fluch. Die französische Sprache selbst ist zur Musik elend;
sie ist wässerig, nervenlos, unharmonisch für die Poesie. — Sogar die Schwei¬
zer hatten gemeint, daß die Sprache nicht eher zur Vollkommenheit gelange,
ehe nicht philosophische Köpfe die Bedeutungen der Wörter in ihren Schran¬
ken völlig festsetzen und die Sprache mit neuen Wörtern für bisher nicht hin¬
länglich signirte Begriffe bereichern würden. Herder: Die philosophische Be¬
richtigung gemeiner Rede führt zu einer für Poesie völlig untauglichen, trocke¬
nen, einförmigen Sprache. Wir sind Menschen ehe wir Weltweise werden.
Nicht die Leibnitz und Wolf sind es, welche eine Sprache bereichern und ver¬
vollkommnen, sondern sprach gewaltige, kräftig fühlende, von dem eigenthüm¬
lichen Geist der Nation lebhaft durchdrungene Genies, wie Luther und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/550>, abgerufen am 25.07.2024.