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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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schreiben läßt. Sollten diese nach Stubenluft und Lampe duftenden Fictionen
die Grenadiere singen? Mußten sie nicht fühlen, daß man sich eben nur zu
ihnen "herabließ"? O, wenn sie ihren Prinz Eugen und Fredericus Rex
nicht gehabt hätten!

Gleim dichtete auch "Romanzen". Bei den Castilianern hatte sich
im Gegensatz zur lateinischen Kunstdichtung eine Volkspoesie in der romani¬
schen Landessprache entwickelt. Man sang in natürlicher, sinnlicher, drama¬
tisch lebendiger Weise die in der Erinnerung des Volkes lebenden Geschichten
und Sagen; Alles ohne Künstelei, rein einfach und zwanglos. Diese naiven,
treuherzigen "Romanzen" travestirte die spätere Zeit, travestirten vorzüglich
Franzosen im Gefühl ihrer feinern Bildung durch übertriebenes Pathos. So
hatte Gleim aus französischen Nachbildungen die Romanze kennen gelernt.
Er gab ihr, um sie volksmäßig zu machen, den Ton der Bänkelsängerlieder,
die auf Jahrmärkten zu bunten Darstellungen gräßlicher Schauergeschichten
vorgetragen wurden und werden. Man erkennt Manier und Absicht sofort
an dem Titel der ersten: "Traurige und betrübte Folgen der schändlichen
Eifersucht, wie auch heilsamer Unterricht, daß Eltern, die ihre Kinder lieben,
sie zu keiner Heirath zwingen, sondern ihnen freien Willen lassen sollen, ent¬
halten in der Geschichte des Herrn Isaac Voltens, der sich am 11. April
1756 zu Berlin eigenhändig umgebracht, nachdem er seine getreue Ehegattin
Marianne und derselben unschuldigen Liebhaber jämmerlich ermordet." Eine
Berliner Mordgeschichte mit dem possirlich traurigen Ton eines cultivirten
Dichters vorgetragen, der sich im Bewußtsein seines Werthes und seiner Höhe
über das innerlich lustig macht, was er mittheilt: Herablassung, hier wie
dort! Auf dieselbe ironische Weise behandelte Gleim eine Leipziger Mordthat
und die Aufschneidereien eines holländischen Seefahrers; ähnlich Andere die
ovidischen Verwandlungen, des Aeneas Irrfahrten und Kriege; Alles ver¬
brämt mit Gespenster- und Zauberspuk, voll von Schlüpfrigkeiten und Ob-
scönitäten. Ein Nomanzensänger war, so charakterisirt ein Zeitgenosse, "wie
ein Mensch mit einem unsaubern Raritätenkasten." --

Dies etwa der Umkreis der lyrischen und lyrisch-epischen Leistungen, als
Herder auftrat. Seine neuen Ansichten sind entwickelt in den Schriften
vom Jahre 1766--1779, in den Fragmenten und kritischen Wäldern, in der
Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in den mit Goethe heraus¬
gegebenen Blättern von Deutscher Art und Kunst, in Bojes Deutschem Mu¬
seum. Man findet sie auch in der Abhandlung, die im Jahre 1778 den
Preis der baierischen Akademie erhielt: "Ueber die Wirkung der Dichtkunst
auf die Völker in alten und neuen Zeiten." Die Prinzipien derselben hatten
sich früh bei ihm gefestigt; sie beginnen schon vor Ablauf dieser Periode in
Norddeutschland und am Rhein und Main zu wirken. Als er im Winter


schreiben läßt. Sollten diese nach Stubenluft und Lampe duftenden Fictionen
die Grenadiere singen? Mußten sie nicht fühlen, daß man sich eben nur zu
ihnen „herabließ"? O, wenn sie ihren Prinz Eugen und Fredericus Rex
nicht gehabt hätten!

Gleim dichtete auch „Romanzen". Bei den Castilianern hatte sich
im Gegensatz zur lateinischen Kunstdichtung eine Volkspoesie in der romani¬
schen Landessprache entwickelt. Man sang in natürlicher, sinnlicher, drama¬
tisch lebendiger Weise die in der Erinnerung des Volkes lebenden Geschichten
und Sagen; Alles ohne Künstelei, rein einfach und zwanglos. Diese naiven,
treuherzigen „Romanzen" travestirte die spätere Zeit, travestirten vorzüglich
Franzosen im Gefühl ihrer feinern Bildung durch übertriebenes Pathos. So
hatte Gleim aus französischen Nachbildungen die Romanze kennen gelernt.
Er gab ihr, um sie volksmäßig zu machen, den Ton der Bänkelsängerlieder,
die auf Jahrmärkten zu bunten Darstellungen gräßlicher Schauergeschichten
vorgetragen wurden und werden. Man erkennt Manier und Absicht sofort
an dem Titel der ersten: „Traurige und betrübte Folgen der schändlichen
Eifersucht, wie auch heilsamer Unterricht, daß Eltern, die ihre Kinder lieben,
sie zu keiner Heirath zwingen, sondern ihnen freien Willen lassen sollen, ent¬
halten in der Geschichte des Herrn Isaac Voltens, der sich am 11. April
1756 zu Berlin eigenhändig umgebracht, nachdem er seine getreue Ehegattin
Marianne und derselben unschuldigen Liebhaber jämmerlich ermordet." Eine
Berliner Mordgeschichte mit dem possirlich traurigen Ton eines cultivirten
Dichters vorgetragen, der sich im Bewußtsein seines Werthes und seiner Höhe
über das innerlich lustig macht, was er mittheilt: Herablassung, hier wie
dort! Auf dieselbe ironische Weise behandelte Gleim eine Leipziger Mordthat
und die Aufschneidereien eines holländischen Seefahrers; ähnlich Andere die
ovidischen Verwandlungen, des Aeneas Irrfahrten und Kriege; Alles ver¬
brämt mit Gespenster- und Zauberspuk, voll von Schlüpfrigkeiten und Ob-
scönitäten. Ein Nomanzensänger war, so charakterisirt ein Zeitgenosse, „wie
ein Mensch mit einem unsaubern Raritätenkasten." —

Dies etwa der Umkreis der lyrischen und lyrisch-epischen Leistungen, als
Herder auftrat. Seine neuen Ansichten sind entwickelt in den Schriften
vom Jahre 1766—1779, in den Fragmenten und kritischen Wäldern, in der
Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in den mit Goethe heraus¬
gegebenen Blättern von Deutscher Art und Kunst, in Bojes Deutschem Mu¬
seum. Man findet sie auch in der Abhandlung, die im Jahre 1778 den
Preis der baierischen Akademie erhielt: „Ueber die Wirkung der Dichtkunst
auf die Völker in alten und neuen Zeiten." Die Prinzipien derselben hatten
sich früh bei ihm gefestigt; sie beginnen schon vor Ablauf dieser Periode in
Norddeutschland und am Rhein und Main zu wirken. Als er im Winter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/549>, abgerufen am 25.07.2024.