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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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nach Art europäischer Philantropie zu werfen pflegen. Es wurde Fröbel nach
und nach klar, daß die Staatsform mit der socialen Entwickelung enge zu¬
sammenhängt und daß die Republik durchaus nicht der politische Ausdruck
desjenigen Stadiums der socialen Entwickelung ist, in welchem die socialen Unter¬
schiede am meisten versöhnt sind, sei es durch eine zur Herrschaft gelangte nivel-
lirende Tendenz, sei es durch den Ausgleich der sittlichen Pflichten. Die amerikani¬
schen Eindrücke und Erfahrungen hat Fröbel in dem durch Inhalt und Form
gleich ausgezeichneten Werke: "Aus Amerika, Krisen und Studien" niedergelegt.

Indem Fröbel in Amerika lernte oder doch zum ersten Mal sich deutlich
zum Bewußtsein brachte, daß die Staatsform -- und was kann die Demo¬
kratie anders bedeuten, als eine bestimmte Art der Staatsgestaltung? --> der
Ausdruck eines bestimmten Stadiums der socialen und sittlichen Entwickelung
ist, lernte er auch die europäischen Gegensätze objectiver und aus einem um¬
fassenderen Standpunkt würdigen. Die innere Staatsverfassung interessiere
ihn jetzt weniger nach ihrer Annäherung an ein vermeintliches Ideal, als
nach ihrer Leistungsfähigkeit für den Fortschritt des betreffenden Volkes in
seiner bestimmten historischen Lage. Es war die Gesammtheit des Völker¬
lebens mit ihren Motiven und Gegensätzen, die ihn nun eine Zeit lang aus¬
schließlich beschäftigte. Im fünften Jahrzehend des Jahrhunderts war die
europäische Welt, wie man weiß, durch den orientalischen Krieg als die wich¬
tigste Begebenheit bewegt. Die öffentliche Meinung Amerika's betrachtete, wie
man sich erinnert, den europäischen Kampf von einem ganz abstracten Schema
aus, unter dem man sich dort die Weltentwickelung vorzustellen angewöhnt
hatte. Man construirte sich die Politik gleich nach Welttheilen und nahm
Asien und Europa für einen einzigen Welttheil, den alten Continent, wie
man zu sagen liebte, obwohl die sogenannte Jugend Amerika's geologisch
einigermaßen zweifelhaft ist. Bei der Vertheilung der Welt forderte man den
amerikanischen Continent mit der dazu gehörigen Inselwelt für sich und gönnte
den alten Continent den Russen. Afrika, das nur durch eine Landenge mit
dem alten Continent zusammenhängt, überließ man einstweilen dem eigenen
Schicksal, es wäre sonst selbst nach amerikanischer Vorstellung für die Russen
zuviel geworden. Diese russische Sympathie in den Vereinigten Staaten hat
eigentlich keinen andern Grund, als daß, auf der Karte gesehen, von der
alten Welt die Russen schon das Meiste inne haben, und daß ihre Regierung
außerdem wohlfeile Artigkeiten gegen die öffentliche Meinung Amerika's ge¬
legentlich nicht gespart hatte. Der Westen Europa's lag mit Nußland im
Kampfe, derselbe Westen, der mit Amerika's Handels- und Seeherrschaft riva-
lisirte. Grund genug für die sogenannte öffentliche Meinung, die das kurz-
blickendste Geschöpf von der Welt ist, den Russen die Herrschaft über ganz
Europa zu wünschen. Die öffentliche Meinung, wo sie auch den Mund auf-


Grmzvotm II. 1871. 67

nach Art europäischer Philantropie zu werfen pflegen. Es wurde Fröbel nach
und nach klar, daß die Staatsform mit der socialen Entwickelung enge zu¬
sammenhängt und daß die Republik durchaus nicht der politische Ausdruck
desjenigen Stadiums der socialen Entwickelung ist, in welchem die socialen Unter¬
schiede am meisten versöhnt sind, sei es durch eine zur Herrschaft gelangte nivel-
lirende Tendenz, sei es durch den Ausgleich der sittlichen Pflichten. Die amerikani¬
schen Eindrücke und Erfahrungen hat Fröbel in dem durch Inhalt und Form
gleich ausgezeichneten Werke: „Aus Amerika, Krisen und Studien" niedergelegt.

Indem Fröbel in Amerika lernte oder doch zum ersten Mal sich deutlich
zum Bewußtsein brachte, daß die Staatsform — und was kann die Demo¬
kratie anders bedeuten, als eine bestimmte Art der Staatsgestaltung? —> der
Ausdruck eines bestimmten Stadiums der socialen und sittlichen Entwickelung
ist, lernte er auch die europäischen Gegensätze objectiver und aus einem um¬
fassenderen Standpunkt würdigen. Die innere Staatsverfassung interessiere
ihn jetzt weniger nach ihrer Annäherung an ein vermeintliches Ideal, als
nach ihrer Leistungsfähigkeit für den Fortschritt des betreffenden Volkes in
seiner bestimmten historischen Lage. Es war die Gesammtheit des Völker¬
lebens mit ihren Motiven und Gegensätzen, die ihn nun eine Zeit lang aus¬
schließlich beschäftigte. Im fünften Jahrzehend des Jahrhunderts war die
europäische Welt, wie man weiß, durch den orientalischen Krieg als die wich¬
tigste Begebenheit bewegt. Die öffentliche Meinung Amerika's betrachtete, wie
man sich erinnert, den europäischen Kampf von einem ganz abstracten Schema
aus, unter dem man sich dort die Weltentwickelung vorzustellen angewöhnt
hatte. Man construirte sich die Politik gleich nach Welttheilen und nahm
Asien und Europa für einen einzigen Welttheil, den alten Continent, wie
man zu sagen liebte, obwohl die sogenannte Jugend Amerika's geologisch
einigermaßen zweifelhaft ist. Bei der Vertheilung der Welt forderte man den
amerikanischen Continent mit der dazu gehörigen Inselwelt für sich und gönnte
den alten Continent den Russen. Afrika, das nur durch eine Landenge mit
dem alten Continent zusammenhängt, überließ man einstweilen dem eigenen
Schicksal, es wäre sonst selbst nach amerikanischer Vorstellung für die Russen
zuviel geworden. Diese russische Sympathie in den Vereinigten Staaten hat
eigentlich keinen andern Grund, als daß, auf der Karte gesehen, von der
alten Welt die Russen schon das Meiste inne haben, und daß ihre Regierung
außerdem wohlfeile Artigkeiten gegen die öffentliche Meinung Amerika's ge¬
legentlich nicht gespart hatte. Der Westen Europa's lag mit Nußland im
Kampfe, derselbe Westen, der mit Amerika's Handels- und Seeherrschaft riva-
lisirte. Grund genug für die sogenannte öffentliche Meinung, die das kurz-
blickendste Geschöpf von der Welt ist, den Russen die Herrschaft über ganz
Europa zu wünschen. Die öffentliche Meinung, wo sie auch den Mund auf-


Grmzvotm II. 1871. 67
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[0537] nach Art europäischer Philantropie zu werfen pflegen. Es wurde Fröbel nach und nach klar, daß die Staatsform mit der socialen Entwickelung enge zu¬ sammenhängt und daß die Republik durchaus nicht der politische Ausdruck desjenigen Stadiums der socialen Entwickelung ist, in welchem die socialen Unter¬ schiede am meisten versöhnt sind, sei es durch eine zur Herrschaft gelangte nivel- lirende Tendenz, sei es durch den Ausgleich der sittlichen Pflichten. Die amerikani¬ schen Eindrücke und Erfahrungen hat Fröbel in dem durch Inhalt und Form gleich ausgezeichneten Werke: „Aus Amerika, Krisen und Studien" niedergelegt. Indem Fröbel in Amerika lernte oder doch zum ersten Mal sich deutlich zum Bewußtsein brachte, daß die Staatsform — und was kann die Demo¬ kratie anders bedeuten, als eine bestimmte Art der Staatsgestaltung? —> der Ausdruck eines bestimmten Stadiums der socialen und sittlichen Entwickelung ist, lernte er auch die europäischen Gegensätze objectiver und aus einem um¬ fassenderen Standpunkt würdigen. Die innere Staatsverfassung interessiere ihn jetzt weniger nach ihrer Annäherung an ein vermeintliches Ideal, als nach ihrer Leistungsfähigkeit für den Fortschritt des betreffenden Volkes in seiner bestimmten historischen Lage. Es war die Gesammtheit des Völker¬ lebens mit ihren Motiven und Gegensätzen, die ihn nun eine Zeit lang aus¬ schließlich beschäftigte. Im fünften Jahrzehend des Jahrhunderts war die europäische Welt, wie man weiß, durch den orientalischen Krieg als die wich¬ tigste Begebenheit bewegt. Die öffentliche Meinung Amerika's betrachtete, wie man sich erinnert, den europäischen Kampf von einem ganz abstracten Schema aus, unter dem man sich dort die Weltentwickelung vorzustellen angewöhnt hatte. Man construirte sich die Politik gleich nach Welttheilen und nahm Asien und Europa für einen einzigen Welttheil, den alten Continent, wie man zu sagen liebte, obwohl die sogenannte Jugend Amerika's geologisch einigermaßen zweifelhaft ist. Bei der Vertheilung der Welt forderte man den amerikanischen Continent mit der dazu gehörigen Inselwelt für sich und gönnte den alten Continent den Russen. Afrika, das nur durch eine Landenge mit dem alten Continent zusammenhängt, überließ man einstweilen dem eigenen Schicksal, es wäre sonst selbst nach amerikanischer Vorstellung für die Russen zuviel geworden. Diese russische Sympathie in den Vereinigten Staaten hat eigentlich keinen andern Grund, als daß, auf der Karte gesehen, von der alten Welt die Russen schon das Meiste inne haben, und daß ihre Regierung außerdem wohlfeile Artigkeiten gegen die öffentliche Meinung Amerika's ge¬ legentlich nicht gespart hatte. Der Westen Europa's lag mit Nußland im Kampfe, derselbe Westen, der mit Amerika's Handels- und Seeherrschaft riva- lisirte. Grund genug für die sogenannte öffentliche Meinung, die das kurz- blickendste Geschöpf von der Welt ist, den Russen die Herrschaft über ganz Europa zu wünschen. Die öffentliche Meinung, wo sie auch den Mund auf- Grmzvotm II. 1871. 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/537>, abgerufen am 25.07.2024.