Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den Personen natürlich am wenigsten; aber ihre Gegner waren nicht sowohl
darauf bedacht, die Befugnisse der Verwaltung zu mäßigen, als vielmehr
darauf, sich zu Herren des alle individuelle Freiheit, alle corporative Selbst-
ständigkeit ertödtenden Verwaltungsorganismus zu machen und, zur Herrschaft
gelangt, ihren Gegnern denselben Druck empfinden zu lassen, unter dem sie
selbst in der Opposition geseufzt hatten.

Dies Verhältniß wurde unter der Herrschaft des parlamentarischen Sy¬
stems nicht gemildert, sondern trat nur um so schroffer hervor, je offener ge¬
rade auf der parlamentarischen Arena der Kampf um die Gewalt geführt
wurde. Das parlamentarische System ist, nachdem Carls X. thörichter Versuch,
es durch einen Staatsstreich zu beseitigen, den Sturz der älteren bourbonischen
Linie zur Folge gehabt hatte, unter Ludwig Philipp zur vollsten Entfaltung
und höchsten Blüthe gelangt. Man pflegt Ludwig Philipp's Regierungs-
system als Scheinconstitutionalismus zu bezeichnen. Die Beschuldigung ist
nicht unbegründet; nur trifft sie nicht insbesondere das System der Julimo¬
narchie, sondern den ganzen französischen Constitutionalismus: so verstanden,
als ob Ludwig Philipp nur darauf bedacht gewesen sei, unter dem Deckman¬
tel der constitutionellen Formen seine eigene Politik zur Geltung zu bringen,
ist die Beschuldigung aber geradezu ungerecht. Ludwig Philipp hat sich, we¬
nige Fälle ausgenommen, den Anforderungen der constitutionellen Doctrin
auch da gefügt, wo er seiner Neigung, ja seiner politischen Ueberzeugung den
härtesten Zwang anthun mußte: das Urtheil der Kammermajorität verfügte
fast unbedingt über die Ministerien: des Bürgerkönigs persönliches Eingreifen
in die Negierung beschränkte sich auf den natürlichen Einfluß, den selbst unter
der Herrschaft des Grundsatzes 1v roi rößno et n<z AOuverno xg.s ein König
von überlegenem Verstände immer auf feine Berather ausüben wird. Selbst
einige Lieblingsgedanken, an denen er mit Zähigkeit festhielt, suchte er doch
nicht gegen den Willen der Majorität zur Ausführung zu bringen. Kurz,
wer als höchstes Ideal des constitutionellen Systems die Herrschaft der jedes¬
maligen parlamentarischen Majorität ansieht, muß dies sein Ideal/Unter der
Herrschaft Ludwig Philipps vollständig verwirklicht finden.

Wenn also von einer absichtlichen Fälschung des Constitutionalismus
unter Ludwig Philipp nicht die Rede sein kann, so bestand doch allerdings
ein schneidender innerer Widerspruch zwischen dem Repräsentativsystem und
dem von allen Parteien gleich heilig gehaltenen, auf dem Centralisationsprin¬
cip beruhenden Verwaltungsorganismus, und an diesem inneren Widerspruche
mußte die constitutionelle Monarchie sich abnutzen und zu Grunde gehen, und
das um so sicherer, je vollkommener die constitutionellen Formen sich ausge¬
bildet hatten. Die bürgerliche Freiheit zog aus der geschickten Einfügung
des Verfassungsmechanismus in den schroff centralisirten Beamtenstaat keinen


den Personen natürlich am wenigsten; aber ihre Gegner waren nicht sowohl
darauf bedacht, die Befugnisse der Verwaltung zu mäßigen, als vielmehr
darauf, sich zu Herren des alle individuelle Freiheit, alle corporative Selbst-
ständigkeit ertödtenden Verwaltungsorganismus zu machen und, zur Herrschaft
gelangt, ihren Gegnern denselben Druck empfinden zu lassen, unter dem sie
selbst in der Opposition geseufzt hatten.

Dies Verhältniß wurde unter der Herrschaft des parlamentarischen Sy¬
stems nicht gemildert, sondern trat nur um so schroffer hervor, je offener ge¬
rade auf der parlamentarischen Arena der Kampf um die Gewalt geführt
wurde. Das parlamentarische System ist, nachdem Carls X. thörichter Versuch,
es durch einen Staatsstreich zu beseitigen, den Sturz der älteren bourbonischen
Linie zur Folge gehabt hatte, unter Ludwig Philipp zur vollsten Entfaltung
und höchsten Blüthe gelangt. Man pflegt Ludwig Philipp's Regierungs-
system als Scheinconstitutionalismus zu bezeichnen. Die Beschuldigung ist
nicht unbegründet; nur trifft sie nicht insbesondere das System der Julimo¬
narchie, sondern den ganzen französischen Constitutionalismus: so verstanden,
als ob Ludwig Philipp nur darauf bedacht gewesen sei, unter dem Deckman¬
tel der constitutionellen Formen seine eigene Politik zur Geltung zu bringen,
ist die Beschuldigung aber geradezu ungerecht. Ludwig Philipp hat sich, we¬
nige Fälle ausgenommen, den Anforderungen der constitutionellen Doctrin
auch da gefügt, wo er seiner Neigung, ja seiner politischen Ueberzeugung den
härtesten Zwang anthun mußte: das Urtheil der Kammermajorität verfügte
fast unbedingt über die Ministerien: des Bürgerkönigs persönliches Eingreifen
in die Negierung beschränkte sich auf den natürlichen Einfluß, den selbst unter
der Herrschaft des Grundsatzes 1v roi rößno et n<z AOuverno xg.s ein König
von überlegenem Verstände immer auf feine Berather ausüben wird. Selbst
einige Lieblingsgedanken, an denen er mit Zähigkeit festhielt, suchte er doch
nicht gegen den Willen der Majorität zur Ausführung zu bringen. Kurz,
wer als höchstes Ideal des constitutionellen Systems die Herrschaft der jedes¬
maligen parlamentarischen Majorität ansieht, muß dies sein Ideal/Unter der
Herrschaft Ludwig Philipps vollständig verwirklicht finden.

Wenn also von einer absichtlichen Fälschung des Constitutionalismus
unter Ludwig Philipp nicht die Rede sein kann, so bestand doch allerdings
ein schneidender innerer Widerspruch zwischen dem Repräsentativsystem und
dem von allen Parteien gleich heilig gehaltenen, auf dem Centralisationsprin¬
cip beruhenden Verwaltungsorganismus, und an diesem inneren Widerspruche
mußte die constitutionelle Monarchie sich abnutzen und zu Grunde gehen, und
das um so sicherer, je vollkommener die constitutionellen Formen sich ausge¬
bildet hatten. Die bürgerliche Freiheit zog aus der geschickten Einfügung
des Verfassungsmechanismus in den schroff centralisirten Beamtenstaat keinen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0050" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126366"/>
            <p xml:id="ID_108" prev="#ID_107"> den Personen natürlich am wenigsten; aber ihre Gegner waren nicht sowohl<lb/>
darauf bedacht, die Befugnisse der Verwaltung zu mäßigen, als vielmehr<lb/>
darauf, sich zu Herren des alle individuelle Freiheit, alle corporative Selbst-<lb/>
ständigkeit ertödtenden Verwaltungsorganismus zu machen und, zur Herrschaft<lb/>
gelangt, ihren Gegnern denselben Druck empfinden zu lassen, unter dem sie<lb/>
selbst in der Opposition geseufzt hatten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_109"> Dies Verhältniß wurde unter der Herrschaft des parlamentarischen Sy¬<lb/>
stems nicht gemildert, sondern trat nur um so schroffer hervor, je offener ge¬<lb/>
rade auf der parlamentarischen Arena der Kampf um die Gewalt geführt<lb/>
wurde. Das parlamentarische System ist, nachdem Carls X. thörichter Versuch,<lb/>
es durch einen Staatsstreich zu beseitigen, den Sturz der älteren bourbonischen<lb/>
Linie zur Folge gehabt hatte, unter Ludwig Philipp zur vollsten Entfaltung<lb/>
und höchsten Blüthe gelangt. Man pflegt Ludwig Philipp's Regierungs-<lb/>
system als Scheinconstitutionalismus zu bezeichnen. Die Beschuldigung ist<lb/>
nicht unbegründet; nur trifft sie nicht insbesondere das System der Julimo¬<lb/>
narchie, sondern den ganzen französischen Constitutionalismus: so verstanden,<lb/>
als ob Ludwig Philipp nur darauf bedacht gewesen sei, unter dem Deckman¬<lb/>
tel der constitutionellen Formen seine eigene Politik zur Geltung zu bringen,<lb/>
ist die Beschuldigung aber geradezu ungerecht. Ludwig Philipp hat sich, we¬<lb/>
nige Fälle ausgenommen, den Anforderungen der constitutionellen Doctrin<lb/>
auch da gefügt, wo er seiner Neigung, ja seiner politischen Ueberzeugung den<lb/>
härtesten Zwang anthun mußte: das Urtheil der Kammermajorität verfügte<lb/>
fast unbedingt über die Ministerien: des Bürgerkönigs persönliches Eingreifen<lb/>
in die Negierung beschränkte sich auf den natürlichen Einfluß, den selbst unter<lb/>
der Herrschaft des Grundsatzes 1v roi rößno et n&lt;z AOuverno xg.s ein König<lb/>
von überlegenem Verstände immer auf feine Berather ausüben wird. Selbst<lb/>
einige Lieblingsgedanken, an denen er mit Zähigkeit festhielt, suchte er doch<lb/>
nicht gegen den Willen der Majorität zur Ausführung zu bringen. Kurz,<lb/>
wer als höchstes Ideal des constitutionellen Systems die Herrschaft der jedes¬<lb/>
maligen parlamentarischen Majorität ansieht, muß dies sein Ideal/Unter der<lb/>
Herrschaft Ludwig Philipps vollständig verwirklicht finden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_110" next="#ID_111"> Wenn also von einer absichtlichen Fälschung des Constitutionalismus<lb/>
unter Ludwig Philipp nicht die Rede sein kann, so bestand doch allerdings<lb/>
ein schneidender innerer Widerspruch zwischen dem Repräsentativsystem und<lb/>
dem von allen Parteien gleich heilig gehaltenen, auf dem Centralisationsprin¬<lb/>
cip beruhenden Verwaltungsorganismus, und an diesem inneren Widerspruche<lb/>
mußte die constitutionelle Monarchie sich abnutzen und zu Grunde gehen, und<lb/>
das um so sicherer, je vollkommener die constitutionellen Formen sich ausge¬<lb/>
bildet hatten. Die bürgerliche Freiheit zog aus der geschickten Einfügung<lb/>
des Verfassungsmechanismus in den schroff centralisirten Beamtenstaat keinen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0050] den Personen natürlich am wenigsten; aber ihre Gegner waren nicht sowohl darauf bedacht, die Befugnisse der Verwaltung zu mäßigen, als vielmehr darauf, sich zu Herren des alle individuelle Freiheit, alle corporative Selbst- ständigkeit ertödtenden Verwaltungsorganismus zu machen und, zur Herrschaft gelangt, ihren Gegnern denselben Druck empfinden zu lassen, unter dem sie selbst in der Opposition geseufzt hatten. Dies Verhältniß wurde unter der Herrschaft des parlamentarischen Sy¬ stems nicht gemildert, sondern trat nur um so schroffer hervor, je offener ge¬ rade auf der parlamentarischen Arena der Kampf um die Gewalt geführt wurde. Das parlamentarische System ist, nachdem Carls X. thörichter Versuch, es durch einen Staatsstreich zu beseitigen, den Sturz der älteren bourbonischen Linie zur Folge gehabt hatte, unter Ludwig Philipp zur vollsten Entfaltung und höchsten Blüthe gelangt. Man pflegt Ludwig Philipp's Regierungs- system als Scheinconstitutionalismus zu bezeichnen. Die Beschuldigung ist nicht unbegründet; nur trifft sie nicht insbesondere das System der Julimo¬ narchie, sondern den ganzen französischen Constitutionalismus: so verstanden, als ob Ludwig Philipp nur darauf bedacht gewesen sei, unter dem Deckman¬ tel der constitutionellen Formen seine eigene Politik zur Geltung zu bringen, ist die Beschuldigung aber geradezu ungerecht. Ludwig Philipp hat sich, we¬ nige Fälle ausgenommen, den Anforderungen der constitutionellen Doctrin auch da gefügt, wo er seiner Neigung, ja seiner politischen Ueberzeugung den härtesten Zwang anthun mußte: das Urtheil der Kammermajorität verfügte fast unbedingt über die Ministerien: des Bürgerkönigs persönliches Eingreifen in die Negierung beschränkte sich auf den natürlichen Einfluß, den selbst unter der Herrschaft des Grundsatzes 1v roi rößno et n<z AOuverno xg.s ein König von überlegenem Verstände immer auf feine Berather ausüben wird. Selbst einige Lieblingsgedanken, an denen er mit Zähigkeit festhielt, suchte er doch nicht gegen den Willen der Majorität zur Ausführung zu bringen. Kurz, wer als höchstes Ideal des constitutionellen Systems die Herrschaft der jedes¬ maligen parlamentarischen Majorität ansieht, muß dies sein Ideal/Unter der Herrschaft Ludwig Philipps vollständig verwirklicht finden. Wenn also von einer absichtlichen Fälschung des Constitutionalismus unter Ludwig Philipp nicht die Rede sein kann, so bestand doch allerdings ein schneidender innerer Widerspruch zwischen dem Repräsentativsystem und dem von allen Parteien gleich heilig gehaltenen, auf dem Centralisationsprin¬ cip beruhenden Verwaltungsorganismus, und an diesem inneren Widerspruche mußte die constitutionelle Monarchie sich abnutzen und zu Grunde gehen, und das um so sicherer, je vollkommener die constitutionellen Formen sich ausge¬ bildet hatten. Die bürgerliche Freiheit zog aus der geschickten Einfügung des Verfassungsmechanismus in den schroff centralisirten Beamtenstaat keinen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/50
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/50>, abgerufen am 24.07.2024.