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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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als eine Anspielung auf eine zwischen Kassel und Weißenstein (jetzt Wilhelms¬
höhe) gelegene Strafanstalt und die vielbesprochenen hessischen sogenannten
Subsidienverträge zu erläutern versucht, und es ist dieß im Heft 40 der
Grenzboten von 1870 durch Karl Braun dahin berichtigt worden, daß sich
das Wort Vogelbauer nicht auf die (damals noch gar nicht vorhanden ge¬
wesene) Strafanstalt, sondern aus die damals neu angelegten Wohnhäuser an
der Wilhelmshöher Allee beziehe. Diese letzte Deutung ist die richtige, und
mag daher mir, einem geborenen Kasseler, vergönnt sein, wenn auch ver¬
spätet, im Folgenden einiges Genauere zur Begründung dieser Ansicht mitzu¬
theilen, was das Beißende des Goethe'schen Witzes noch mehr hervortreten läßt
und gleichzeitig für die damalige Staatswirthschaft kennzeichnend ist.

Landgraf Friedrich II. von Hessen (1760 -- 85) hat um das Jahr
1778 nicht nur die Wilhelmshöher (damals noch Weißensteiner) Allee, son¬
dern auch noch andere Colonien angelegt, welche alle seiner und seiner zweiten
Gemahlin Philippine Namen trugen. Außer der Wilhelmshöher Allee, welche
nach den damaligen Quellen dazu dienen sollte, dem Wege von der Winterresidenz
Kassel zur Sommerresidenz Wilhelmshöhe eine gewisse Bedeutung zu verleihen,
wurden diese Colonien meistens an Stellen ausgegangener Orte angelegt, ver¬
muthlich in dem Glauben, die Einwohner dieser Orte seien umgekommen oder
mit Hinterlassung ihrer herrenlos gewordenen Ländereien geflohen, während
dieselben nur der Sicherheit gegen Kriegsfälle wegen, oder weil ihnen der Ort
aus andern Gründen, z. B. Wasserarmuth (was nicht abhielt, nach dem
Zeugniß des hessischen Geschichtsschreibers Rommel an einer solchen wasser¬
armen Stelle in der Gemarkung von Hofgeismar die Colonie Friedrichs¬
dorf anzulegen) nicht zugesagt hatte, in andere Orte gezogen waren, das
Eigenthum ihrer Grundstücke sich aber bewahrt hatten, und man wollte wahr¬
scheinlich mit diesen Colonien die ausgegangenen Orte ersetzen und die Bevöl¬
kerung des Landes vermehren, weßhalb man vorzugsweise Ausländer herbei¬
zuziehen suchte und den Bewohnern des eignen Landes die Ansiedelung in
diesen Colonien untersagte. Da man aber nicht in der Lage wie Landgraf
Friedrichs Großvater, Landgraf Karl (1670 -- 1770), war, welcher durch
die Einwanderung der französischen Refugies gezwungen war, für diese Flücht¬
linge Plätze zur Anlage von Orten zu suchen, so mußte man nun, um diesen
Ort zu bevölkern, die Menschen suchen, und so mußte denn dieser ganz un¬
gesunde, durch nichts gerechtfertigte Colonisationsplan, an dessen Ausführung
sich selbst der bekannte Graf Schliessen betheiligte, selbstverständlich auf's
Glänzendste mißlingen. Ein mir vorliegendes Werkchen "Tagebuch einer Reise
von der westphälischen Grenze bis nach Leipzig. An einen Freund 178S."
Leipzig 1786, erzählt insbesondere von dieser Anlage der Wilhelmshöher Allee
(S. 74 ff.). "Die Vorstadt legte der Landgraf an und vergab die Häuser an


Grenzvoten II. 1871. 62

als eine Anspielung auf eine zwischen Kassel und Weißenstein (jetzt Wilhelms¬
höhe) gelegene Strafanstalt und die vielbesprochenen hessischen sogenannten
Subsidienverträge zu erläutern versucht, und es ist dieß im Heft 40 der
Grenzboten von 1870 durch Karl Braun dahin berichtigt worden, daß sich
das Wort Vogelbauer nicht auf die (damals noch gar nicht vorhanden ge¬
wesene) Strafanstalt, sondern aus die damals neu angelegten Wohnhäuser an
der Wilhelmshöher Allee beziehe. Diese letzte Deutung ist die richtige, und
mag daher mir, einem geborenen Kasseler, vergönnt sein, wenn auch ver¬
spätet, im Folgenden einiges Genauere zur Begründung dieser Ansicht mitzu¬
theilen, was das Beißende des Goethe'schen Witzes noch mehr hervortreten läßt
und gleichzeitig für die damalige Staatswirthschaft kennzeichnend ist.

Landgraf Friedrich II. von Hessen (1760 — 85) hat um das Jahr
1778 nicht nur die Wilhelmshöher (damals noch Weißensteiner) Allee, son¬
dern auch noch andere Colonien angelegt, welche alle seiner und seiner zweiten
Gemahlin Philippine Namen trugen. Außer der Wilhelmshöher Allee, welche
nach den damaligen Quellen dazu dienen sollte, dem Wege von der Winterresidenz
Kassel zur Sommerresidenz Wilhelmshöhe eine gewisse Bedeutung zu verleihen,
wurden diese Colonien meistens an Stellen ausgegangener Orte angelegt, ver¬
muthlich in dem Glauben, die Einwohner dieser Orte seien umgekommen oder
mit Hinterlassung ihrer herrenlos gewordenen Ländereien geflohen, während
dieselben nur der Sicherheit gegen Kriegsfälle wegen, oder weil ihnen der Ort
aus andern Gründen, z. B. Wasserarmuth (was nicht abhielt, nach dem
Zeugniß des hessischen Geschichtsschreibers Rommel an einer solchen wasser¬
armen Stelle in der Gemarkung von Hofgeismar die Colonie Friedrichs¬
dorf anzulegen) nicht zugesagt hatte, in andere Orte gezogen waren, das
Eigenthum ihrer Grundstücke sich aber bewahrt hatten, und man wollte wahr¬
scheinlich mit diesen Colonien die ausgegangenen Orte ersetzen und die Bevöl¬
kerung des Landes vermehren, weßhalb man vorzugsweise Ausländer herbei¬
zuziehen suchte und den Bewohnern des eignen Landes die Ansiedelung in
diesen Colonien untersagte. Da man aber nicht in der Lage wie Landgraf
Friedrichs Großvater, Landgraf Karl (1670 — 1770), war, welcher durch
die Einwanderung der französischen Refugies gezwungen war, für diese Flücht¬
linge Plätze zur Anlage von Orten zu suchen, so mußte man nun, um diesen
Ort zu bevölkern, die Menschen suchen, und so mußte denn dieser ganz un¬
gesunde, durch nichts gerechtfertigte Colonisationsplan, an dessen Ausführung
sich selbst der bekannte Graf Schliessen betheiligte, selbstverständlich auf's
Glänzendste mißlingen. Ein mir vorliegendes Werkchen „Tagebuch einer Reise
von der westphälischen Grenze bis nach Leipzig. An einen Freund 178S."
Leipzig 1786, erzählt insbesondere von dieser Anlage der Wilhelmshöher Allee
(S. 74 ff.). „Die Vorstadt legte der Landgraf an und vergab die Häuser an


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[0497] als eine Anspielung auf eine zwischen Kassel und Weißenstein (jetzt Wilhelms¬ höhe) gelegene Strafanstalt und die vielbesprochenen hessischen sogenannten Subsidienverträge zu erläutern versucht, und es ist dieß im Heft 40 der Grenzboten von 1870 durch Karl Braun dahin berichtigt worden, daß sich das Wort Vogelbauer nicht auf die (damals noch gar nicht vorhanden ge¬ wesene) Strafanstalt, sondern aus die damals neu angelegten Wohnhäuser an der Wilhelmshöher Allee beziehe. Diese letzte Deutung ist die richtige, und mag daher mir, einem geborenen Kasseler, vergönnt sein, wenn auch ver¬ spätet, im Folgenden einiges Genauere zur Begründung dieser Ansicht mitzu¬ theilen, was das Beißende des Goethe'schen Witzes noch mehr hervortreten läßt und gleichzeitig für die damalige Staatswirthschaft kennzeichnend ist. Landgraf Friedrich II. von Hessen (1760 — 85) hat um das Jahr 1778 nicht nur die Wilhelmshöher (damals noch Weißensteiner) Allee, son¬ dern auch noch andere Colonien angelegt, welche alle seiner und seiner zweiten Gemahlin Philippine Namen trugen. Außer der Wilhelmshöher Allee, welche nach den damaligen Quellen dazu dienen sollte, dem Wege von der Winterresidenz Kassel zur Sommerresidenz Wilhelmshöhe eine gewisse Bedeutung zu verleihen, wurden diese Colonien meistens an Stellen ausgegangener Orte angelegt, ver¬ muthlich in dem Glauben, die Einwohner dieser Orte seien umgekommen oder mit Hinterlassung ihrer herrenlos gewordenen Ländereien geflohen, während dieselben nur der Sicherheit gegen Kriegsfälle wegen, oder weil ihnen der Ort aus andern Gründen, z. B. Wasserarmuth (was nicht abhielt, nach dem Zeugniß des hessischen Geschichtsschreibers Rommel an einer solchen wasser¬ armen Stelle in der Gemarkung von Hofgeismar die Colonie Friedrichs¬ dorf anzulegen) nicht zugesagt hatte, in andere Orte gezogen waren, das Eigenthum ihrer Grundstücke sich aber bewahrt hatten, und man wollte wahr¬ scheinlich mit diesen Colonien die ausgegangenen Orte ersetzen und die Bevöl¬ kerung des Landes vermehren, weßhalb man vorzugsweise Ausländer herbei¬ zuziehen suchte und den Bewohnern des eignen Landes die Ansiedelung in diesen Colonien untersagte. Da man aber nicht in der Lage wie Landgraf Friedrichs Großvater, Landgraf Karl (1670 — 1770), war, welcher durch die Einwanderung der französischen Refugies gezwungen war, für diese Flücht¬ linge Plätze zur Anlage von Orten zu suchen, so mußte man nun, um diesen Ort zu bevölkern, die Menschen suchen, und so mußte denn dieser ganz un¬ gesunde, durch nichts gerechtfertigte Colonisationsplan, an dessen Ausführung sich selbst der bekannte Graf Schliessen betheiligte, selbstverständlich auf's Glänzendste mißlingen. Ein mir vorliegendes Werkchen „Tagebuch einer Reise von der westphälischen Grenze bis nach Leipzig. An einen Freund 178S." Leipzig 1786, erzählt insbesondere von dieser Anlage der Wilhelmshöher Allee (S. 74 ff.). „Die Vorstadt legte der Landgraf an und vergab die Häuser an Grenzvoten II. 1871. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/497>, abgerufen am 24.07.2024.