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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Französisches Mrteiwesen
von Georg Zelle.
I. Einleitendes.

Mehr als achtzig Jahre sind verflossen seit dem ersten Versuche der Fran¬
zosen, ein freies verfassungsmäßig geordnetes Staatswesen zu gründen. Es
war ein stürmischer, welterschütternder Versuch, der erste gewaltsame Ausbruch
des lange unterdrückten und gefesselten Freiheitstriebes, ein Versuch, der das
alte Frankreich vernichtete, den Boden des Landes mit Trümmern bedeckte
und der französischen Gesellschaft neue, wenn auch bereits durch die vorher¬
gegangene Entwickelung vorgezeichnete Grundlagen gab; aber die politische
Freiheit in's Leben zu rufen, sie zum Princip des neuen Frankreichs zu ma¬
chen, gelang der entfesselten Volkskraft nicht. Die gewaltsame Lösung aller
zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft obwaltenden Beziehungen,
die Zertrümmerung alles dessen, was das nivellirende Königthum an corpo-
rativen Leben noch hatte bestehen lassen, bewirkte vielmehr, daß eine maßlose
Steigerung der Regierungsgewalt dem Lande als eine Pflicht der Selbster¬
haltung erschien. Nur die consequenteste Entwickelung der bereits von den
Königen erfolgreich angestrebten Concentration der Verwaltung schien im
Stande zu sein, in der von allen Schranken des Herkommens befreiten, aller
socialen und politischen Krystallisationspunkte beraubten, von dem beständigen
Kampfe feindlich sich gegenüberstehender Volksclassen bedrohten Gesellschaft die
Autorität des Staates aufrecht zu erhalten. Was der Wohlfahrtsausschuß
durch den rücksichtslosesten revolutionären Terrorismus anstrebte und, wenn
auch nur vorübergehend, durchführte, die Zusammenfassung aller Kräfte des
Landes in der Hand der Regierung, das erreichte Napoleon I. durch die auf
dem Grundsatz der strengsten Centralisation beruhende regelmäßige Organisa¬
tion der Verwaltung. Und was Napoleon auf diesem Gebiete geschaffen,
das hat jede folgende Negierung als kostbarste Erbschaft übernommen, ange¬
wendet und zu immer größerer Vollkommenheit ausgebildet. Mochten die
Inhaber der Gewalt wechseln: ihre Attribute verfassungsmäßig zu beschränken,
siel Niemandem ein, den gerade hervorstehenden Classen und am Ruder sitzen-


GrmMm II. 1871. 6
Französisches Mrteiwesen
von Georg Zelle.
I. Einleitendes.

Mehr als achtzig Jahre sind verflossen seit dem ersten Versuche der Fran¬
zosen, ein freies verfassungsmäßig geordnetes Staatswesen zu gründen. Es
war ein stürmischer, welterschütternder Versuch, der erste gewaltsame Ausbruch
des lange unterdrückten und gefesselten Freiheitstriebes, ein Versuch, der das
alte Frankreich vernichtete, den Boden des Landes mit Trümmern bedeckte
und der französischen Gesellschaft neue, wenn auch bereits durch die vorher¬
gegangene Entwickelung vorgezeichnete Grundlagen gab; aber die politische
Freiheit in's Leben zu rufen, sie zum Princip des neuen Frankreichs zu ma¬
chen, gelang der entfesselten Volkskraft nicht. Die gewaltsame Lösung aller
zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft obwaltenden Beziehungen,
die Zertrümmerung alles dessen, was das nivellirende Königthum an corpo-
rativen Leben noch hatte bestehen lassen, bewirkte vielmehr, daß eine maßlose
Steigerung der Regierungsgewalt dem Lande als eine Pflicht der Selbster¬
haltung erschien. Nur die consequenteste Entwickelung der bereits von den
Königen erfolgreich angestrebten Concentration der Verwaltung schien im
Stande zu sein, in der von allen Schranken des Herkommens befreiten, aller
socialen und politischen Krystallisationspunkte beraubten, von dem beständigen
Kampfe feindlich sich gegenüberstehender Volksclassen bedrohten Gesellschaft die
Autorität des Staates aufrecht zu erhalten. Was der Wohlfahrtsausschuß
durch den rücksichtslosesten revolutionären Terrorismus anstrebte und, wenn
auch nur vorübergehend, durchführte, die Zusammenfassung aller Kräfte des
Landes in der Hand der Regierung, das erreichte Napoleon I. durch die auf
dem Grundsatz der strengsten Centralisation beruhende regelmäßige Organisa¬
tion der Verwaltung. Und was Napoleon auf diesem Gebiete geschaffen,
das hat jede folgende Negierung als kostbarste Erbschaft übernommen, ange¬
wendet und zu immer größerer Vollkommenheit ausgebildet. Mochten die
Inhaber der Gewalt wechseln: ihre Attribute verfassungsmäßig zu beschränken,
siel Niemandem ein, den gerade hervorstehenden Classen und am Ruder sitzen-


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[0049] Französisches Mrteiwesen von Georg Zelle. I. Einleitendes. Mehr als achtzig Jahre sind verflossen seit dem ersten Versuche der Fran¬ zosen, ein freies verfassungsmäßig geordnetes Staatswesen zu gründen. Es war ein stürmischer, welterschütternder Versuch, der erste gewaltsame Ausbruch des lange unterdrückten und gefesselten Freiheitstriebes, ein Versuch, der das alte Frankreich vernichtete, den Boden des Landes mit Trümmern bedeckte und der französischen Gesellschaft neue, wenn auch bereits durch die vorher¬ gegangene Entwickelung vorgezeichnete Grundlagen gab; aber die politische Freiheit in's Leben zu rufen, sie zum Princip des neuen Frankreichs zu ma¬ chen, gelang der entfesselten Volkskraft nicht. Die gewaltsame Lösung aller zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft obwaltenden Beziehungen, die Zertrümmerung alles dessen, was das nivellirende Königthum an corpo- rativen Leben noch hatte bestehen lassen, bewirkte vielmehr, daß eine maßlose Steigerung der Regierungsgewalt dem Lande als eine Pflicht der Selbster¬ haltung erschien. Nur die consequenteste Entwickelung der bereits von den Königen erfolgreich angestrebten Concentration der Verwaltung schien im Stande zu sein, in der von allen Schranken des Herkommens befreiten, aller socialen und politischen Krystallisationspunkte beraubten, von dem beständigen Kampfe feindlich sich gegenüberstehender Volksclassen bedrohten Gesellschaft die Autorität des Staates aufrecht zu erhalten. Was der Wohlfahrtsausschuß durch den rücksichtslosesten revolutionären Terrorismus anstrebte und, wenn auch nur vorübergehend, durchführte, die Zusammenfassung aller Kräfte des Landes in der Hand der Regierung, das erreichte Napoleon I. durch die auf dem Grundsatz der strengsten Centralisation beruhende regelmäßige Organisa¬ tion der Verwaltung. Und was Napoleon auf diesem Gebiete geschaffen, das hat jede folgende Negierung als kostbarste Erbschaft übernommen, ange¬ wendet und zu immer größerer Vollkommenheit ausgebildet. Mochten die Inhaber der Gewalt wechseln: ihre Attribute verfassungsmäßig zu beschränken, siel Niemandem ein, den gerade hervorstehenden Classen und am Ruder sitzen- GrmMm II. 1871. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/49>, abgerufen am 24.07.2024.