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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Aus den Tagen der Eroberung Englands durch
Wilhelm von Kranien.
Ungedrucktc Urkunden aus dem geheimen Archiv zu Arolsen. Von Franz Rühl.

Die merkwürdige Persönlichkeit des Fürsten Georg Friedrich von Wal¬
deck fängt erst in der allerneuesten Zeit an, gehörig gewürdigt zu werden.
Bis vor Kurzem spielte er in den Darstellungen der Geschichte seiner Zeit
eine ganz untergeordnete Rolle. Man kannte ihn als den Führer der Reichs¬
truppen beim Entsatze von Wien, als den Besiegten von Fleurus, das war
Alles. Seine Persönlichkeit, seine Politik, der eingreifende Antheil, den er
an dem Gange der europäischen Dinge genommen -- Niemand wußte davon.
Es hängt das zum Theil damit zusammen, daß die neuere Geschichte von
Deutschland -- wenn wir von Preußen absehen -- überhaupt noch ziemlich
unbekannt ist. Erdmannsdörffer zuerst hat die Bedeutung des Fürsten ge¬
würdigt, aber er schildert nur den brandenburgischen Staatsmann. Und doch
liegt dort nicht der Schwerpunkt seines Lebens. Seine größte Thätigkeit,
seine umfassendste Wirksamkeit entfaltet er erst, nachdem er in den Dienst der
Generalstaaten getreten ist. Er verwächst ganz mit der Politik Wilhelm
Heinrichs von Oranien. Der Widerstand gegen das Uebergewicht Frankreichs,
die Aufrechterhaltung jener wohlabgemessenen Machtverhältnisse, welche keinem
Staate erlauben, die andern gänzlich hintanzusetzen, wird das Alpha und
Omega seines Lebens. Nicht die niederländischen oder gelegentlich die kaiser¬
lichen Interessen vertritt er, sondern die allgemein europäischen. Daß er auch in
Fragen der innern Politik auf das Engste zu dem Prinzen steht, versteht
sich von selbst, er leistete ihm wesentliche Dienste. Die Aussöhnung des
Oraniers mit der Stade Amsterdam im Jahre 168S scheint zum großen Theil
sein Werk. Aber -- abgesehen vom Militärischen -- ist es nur das Gebiet
der auswärtigen Politik, der zünftigen Diplomatie, auf dem er sich mit
Sicherheit bewegt. Die Gefühle der Volksmassen sind ihm fremd, für die
freiheitlichen Bestrebungen der Engländer hat er wenig Verständniß; was ihn


Grenzboten II. 1871- 61
Aus den Tagen der Eroberung Englands durch
Wilhelm von Kranien.
Ungedrucktc Urkunden aus dem geheimen Archiv zu Arolsen. Von Franz Rühl.

Die merkwürdige Persönlichkeit des Fürsten Georg Friedrich von Wal¬
deck fängt erst in der allerneuesten Zeit an, gehörig gewürdigt zu werden.
Bis vor Kurzem spielte er in den Darstellungen der Geschichte seiner Zeit
eine ganz untergeordnete Rolle. Man kannte ihn als den Führer der Reichs¬
truppen beim Entsatze von Wien, als den Besiegten von Fleurus, das war
Alles. Seine Persönlichkeit, seine Politik, der eingreifende Antheil, den er
an dem Gange der europäischen Dinge genommen — Niemand wußte davon.
Es hängt das zum Theil damit zusammen, daß die neuere Geschichte von
Deutschland — wenn wir von Preußen absehen — überhaupt noch ziemlich
unbekannt ist. Erdmannsdörffer zuerst hat die Bedeutung des Fürsten ge¬
würdigt, aber er schildert nur den brandenburgischen Staatsmann. Und doch
liegt dort nicht der Schwerpunkt seines Lebens. Seine größte Thätigkeit,
seine umfassendste Wirksamkeit entfaltet er erst, nachdem er in den Dienst der
Generalstaaten getreten ist. Er verwächst ganz mit der Politik Wilhelm
Heinrichs von Oranien. Der Widerstand gegen das Uebergewicht Frankreichs,
die Aufrechterhaltung jener wohlabgemessenen Machtverhältnisse, welche keinem
Staate erlauben, die andern gänzlich hintanzusetzen, wird das Alpha und
Omega seines Lebens. Nicht die niederländischen oder gelegentlich die kaiser¬
lichen Interessen vertritt er, sondern die allgemein europäischen. Daß er auch in
Fragen der innern Politik auf das Engste zu dem Prinzen steht, versteht
sich von selbst, er leistete ihm wesentliche Dienste. Die Aussöhnung des
Oraniers mit der Stade Amsterdam im Jahre 168S scheint zum großen Theil
sein Werk. Aber — abgesehen vom Militärischen — ist es nur das Gebiet
der auswärtigen Politik, der zünftigen Diplomatie, auf dem er sich mit
Sicherheit bewegt. Die Gefühle der Volksmassen sind ihm fremd, für die
freiheitlichen Bestrebungen der Engländer hat er wenig Verständniß; was ihn


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[0489] Aus den Tagen der Eroberung Englands durch Wilhelm von Kranien. Ungedrucktc Urkunden aus dem geheimen Archiv zu Arolsen. Von Franz Rühl. Die merkwürdige Persönlichkeit des Fürsten Georg Friedrich von Wal¬ deck fängt erst in der allerneuesten Zeit an, gehörig gewürdigt zu werden. Bis vor Kurzem spielte er in den Darstellungen der Geschichte seiner Zeit eine ganz untergeordnete Rolle. Man kannte ihn als den Führer der Reichs¬ truppen beim Entsatze von Wien, als den Besiegten von Fleurus, das war Alles. Seine Persönlichkeit, seine Politik, der eingreifende Antheil, den er an dem Gange der europäischen Dinge genommen — Niemand wußte davon. Es hängt das zum Theil damit zusammen, daß die neuere Geschichte von Deutschland — wenn wir von Preußen absehen — überhaupt noch ziemlich unbekannt ist. Erdmannsdörffer zuerst hat die Bedeutung des Fürsten ge¬ würdigt, aber er schildert nur den brandenburgischen Staatsmann. Und doch liegt dort nicht der Schwerpunkt seines Lebens. Seine größte Thätigkeit, seine umfassendste Wirksamkeit entfaltet er erst, nachdem er in den Dienst der Generalstaaten getreten ist. Er verwächst ganz mit der Politik Wilhelm Heinrichs von Oranien. Der Widerstand gegen das Uebergewicht Frankreichs, die Aufrechterhaltung jener wohlabgemessenen Machtverhältnisse, welche keinem Staate erlauben, die andern gänzlich hintanzusetzen, wird das Alpha und Omega seines Lebens. Nicht die niederländischen oder gelegentlich die kaiser¬ lichen Interessen vertritt er, sondern die allgemein europäischen. Daß er auch in Fragen der innern Politik auf das Engste zu dem Prinzen steht, versteht sich von selbst, er leistete ihm wesentliche Dienste. Die Aussöhnung des Oraniers mit der Stade Amsterdam im Jahre 168S scheint zum großen Theil sein Werk. Aber — abgesehen vom Militärischen — ist es nur das Gebiet der auswärtigen Politik, der zünftigen Diplomatie, auf dem er sich mit Sicherheit bewegt. Die Gefühle der Volksmassen sind ihm fremd, für die freiheitlichen Bestrebungen der Engländer hat er wenig Verständniß; was ihn Grenzboten II. 1871- 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/489>, abgerufen am 24.07.2024.