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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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bel und zum Fußgestell, doch ihre Mängel werden durch ihre großen Borzüge
wesentlich in Schatten gestellt, und nicht wenig hat diese Presse, der wir im
Nachfolgenden einige Aufmersamkeit schenken wollen, dazu beigetragen, die
V. Se. zu dem zu machen, was sie heute sind: zu einer wohl organisirten.
freien, Recht und Gesetz liebenden, unternehmenden, auf Sparsamkeit bedachten
Nation. Auch war die Presse ein mächtiger Hebel zur Erzeugung geläuterten
literarischen Geschmacks unter den Massen. Die Ausbreitung und der Cha¬
rakter dieses Lehrmeisters des öffentlichen Geistes, wenn einmal seiner ganzen
Bedeutung nach geschildert, werden bis zu einem gewissen Grade die allge¬
meine Liebe für Lectüre, die in der großen Republik so ersichtlich ist, erklären.

Die V. Se. von Nordamerika sind die einzigen Länder in der Welt, wo
die periodische Presse keine langen und schweren Kämpfe zu unterhalten hatte,
wo sie nicht als Preis grausamer Verfolgungen Einfluß und Popularität
erlangte, wo sie frühzeitig und fast ohne Widerstand in den nationalen Sit¬
ten sich einbürgerte. Nicht minder sind die Nordamerikaner, die jüngste Na¬
tion, welche uns die am längsten etablirten Journale aufweisen kann, poli¬
tische Blätter, die eine mehr als hundertjährige Existenz haben. Dreist darf
man behaupten, daß die Amerikaner von dem Augenblick an, wo sie sich im
Besitz von Druckergeräthschaften befanden, auch Journale besaßen. Die Presse,
die bei ihrem ersten Auftreten in Europa so hart und schwer zu kämpfen hatte,
begegnete jenseit des Oceans kaum anderen Hindernissen in ihrer Entwicke¬
lung, als materiellen Schwierigkeiten, die ganz unvermeidlich waren in einem
Lande, wo man alles erst neu schaffen mußte und wo die eifersüchtige Poli¬
tik des Mutterlandes jedes industrielle Unternehmen im Keim erstickte, und
hartnäckig alle Arbeit dem Ackerbau zuwandte. Daher kam denn auch, daß
die Heitungspresse während der eoloniälen Periode des amerikanischen Ge¬
meinwesens wenig oder gar nicht benutzt wurde: doch ist es in historischer
Hinsicht und als Fingerzeig für die Bedürfnisse der ersten Ansiedler von Neu-
England und den Unternehmungsgeist jener Zeiten beachtenswerth, daß schon
1689 zu Boston ein "Neuigkeiten-Placat" gedruckt wurde, und daß in der¬
selben Stadt am 25. Septbr. 1690 eine Zeitung erschien. Dieser Pionier der
Presse beschäftigte sich mit auswärtigen wie einheimischen Tagesneuigkeiten
und wurde von Richard Pierce für Benjamin Harris gedruckt. Nur noch ein
einziges Exemplar dieser seltenen Reliquie existirt heute im Staatsarchiv (Ltats-
kapLi- Once) zu London. Gleich nach seinem Erscheinen zog das Blatt die
Aufmerksamkeit der gesetzgebenden Autoritäten auf sich, und da diese der An¬
sicht waren, "daß es ein Pamphlet sei und gegen die gesetzlichen Bestimmun¬
gen herauskomme, auch Reflexionen sehr hoher Natur enthalte", so wurde es
verboten. Es war seinem ganzen Wesen nach eine Zeitung, da es nur von
den augenblicklichen Ereignissen der Heimat wie des Auslandes Bericht er-


bel und zum Fußgestell, doch ihre Mängel werden durch ihre großen Borzüge
wesentlich in Schatten gestellt, und nicht wenig hat diese Presse, der wir im
Nachfolgenden einige Aufmersamkeit schenken wollen, dazu beigetragen, die
V. Se. zu dem zu machen, was sie heute sind: zu einer wohl organisirten.
freien, Recht und Gesetz liebenden, unternehmenden, auf Sparsamkeit bedachten
Nation. Auch war die Presse ein mächtiger Hebel zur Erzeugung geläuterten
literarischen Geschmacks unter den Massen. Die Ausbreitung und der Cha¬
rakter dieses Lehrmeisters des öffentlichen Geistes, wenn einmal seiner ganzen
Bedeutung nach geschildert, werden bis zu einem gewissen Grade die allge¬
meine Liebe für Lectüre, die in der großen Republik so ersichtlich ist, erklären.

Die V. Se. von Nordamerika sind die einzigen Länder in der Welt, wo
die periodische Presse keine langen und schweren Kämpfe zu unterhalten hatte,
wo sie nicht als Preis grausamer Verfolgungen Einfluß und Popularität
erlangte, wo sie frühzeitig und fast ohne Widerstand in den nationalen Sit¬
ten sich einbürgerte. Nicht minder sind die Nordamerikaner, die jüngste Na¬
tion, welche uns die am längsten etablirten Journale aufweisen kann, poli¬
tische Blätter, die eine mehr als hundertjährige Existenz haben. Dreist darf
man behaupten, daß die Amerikaner von dem Augenblick an, wo sie sich im
Besitz von Druckergeräthschaften befanden, auch Journale besaßen. Die Presse,
die bei ihrem ersten Auftreten in Europa so hart und schwer zu kämpfen hatte,
begegnete jenseit des Oceans kaum anderen Hindernissen in ihrer Entwicke¬
lung, als materiellen Schwierigkeiten, die ganz unvermeidlich waren in einem
Lande, wo man alles erst neu schaffen mußte und wo die eifersüchtige Poli¬
tik des Mutterlandes jedes industrielle Unternehmen im Keim erstickte, und
hartnäckig alle Arbeit dem Ackerbau zuwandte. Daher kam denn auch, daß
die Heitungspresse während der eoloniälen Periode des amerikanischen Ge¬
meinwesens wenig oder gar nicht benutzt wurde: doch ist es in historischer
Hinsicht und als Fingerzeig für die Bedürfnisse der ersten Ansiedler von Neu-
England und den Unternehmungsgeist jener Zeiten beachtenswerth, daß schon
1689 zu Boston ein „Neuigkeiten-Placat" gedruckt wurde, und daß in der¬
selben Stadt am 25. Septbr. 1690 eine Zeitung erschien. Dieser Pionier der
Presse beschäftigte sich mit auswärtigen wie einheimischen Tagesneuigkeiten
und wurde von Richard Pierce für Benjamin Harris gedruckt. Nur noch ein
einziges Exemplar dieser seltenen Reliquie existirt heute im Staatsarchiv (Ltats-
kapLi- Once) zu London. Gleich nach seinem Erscheinen zog das Blatt die
Aufmerksamkeit der gesetzgebenden Autoritäten auf sich, und da diese der An¬
sicht waren, „daß es ein Pamphlet sei und gegen die gesetzlichen Bestimmun¬
gen herauskomme, auch Reflexionen sehr hoher Natur enthalte", so wurde es
verboten. Es war seinem ganzen Wesen nach eine Zeitung, da es nur von
den augenblicklichen Ereignissen der Heimat wie des Auslandes Bericht er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/450>, abgerufen am 24.07.2024.