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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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kommt es, daß der mehrstimmige Gesang, diese schönste Gattung der Familien¬
musik, im Allgemeinen so seltene Pflege im Hause findet? Die Natur, in Allem
so unerschöpflich und reich, läßt es an Stimmmaterial gewiß nicht fehlen.
Wie sie Blumen und Bäume zum Blühen, Saaten zur Reife bringt, wie sie
die gefiederten Sänger des Waldes mit den mannigfaltigsten Stimmen be¬
gabt und selbst jeden Vierfüßler mit besonderen Tönen bedacht hat, so hat
sie auch ihrem Lieblinge, dem Menschen ein köstliches, unschätzbares Kleinod
in die Kehle gelegt, eine rechte Gottesgabe, einen wirklichen Segen -- wenn
er nur-darauf achten und dafür sich dankbar erweisen will. Aber wie
Millionen von Blüthen ungesehen verwelken, Millionen von Früchten unge¬
nützt verderben, so werden auch Millionen von Stimmen nicht gebildet, nicht
geübt, nicht gepflegt und kommen deßwegen auch nicht zur Entfaltung; sie
verwelken, verderben; diejenigen, die sie besitzen, haben weder Freude noch
Nutzen davon. Wohl spricht und schreibt man viel über den segensreichen
Einfluß, besonders der musikalischen Kunst, auf Herz, Gemüth und Geist.
Man kann uralte Autoren citiren, die sich in dieser Sache ganz im Sinne
moderner Pädagogen äußern, und zuletzt wird ja auch in unseren Tagen so
sehr viel musicirt. Aber die fast einzige Musikpraxis der Gegenwart, das
Clavierspielen, reicht nicht nur nicht hin, höheres musikalisches Interesse anzu¬
regen und ächte, solide Kunstpflege zu fördern, sie steht eher diesen Zielen
entgegen und beeinträchtigt ihre Erreichung. Das Musiciren ist nur dann
von wahrhaft belebendem Einflüsse, wenn man es mit Andern zusammen thun
kann. Aus dem Grunde muß man es so sehr beklagen, daß von Dilettanten
so selten noch Streich- und Blasinstrumente geübt werden und daß in unsern
Schulen der Gesang so nebensächlich behandelt wird. Es ist eine Versündi¬
gung an den Naturanlagen des Kindes, wenn man eine der edelsten der¬
selben, das Gesangsorgan, so ganz unbeachtet läßt, für seine Ausbildung
fast nichts thut, seine Entwicklung in keiner Weise unterstützt. In unserer
Zeit hat nur praktisches Wissen Werth, dafür geschieht in den Schulen etwas.
Was nicht unmittelbaren Nutzen für die zukünftige Existenz verspricht, --
und dazu kann man leider den Gesang nicht rechnen, -- das läßt man seitab
liegen. Man übersieht aber dabei, daß man dadurch dem Menschen, der ja
doch nicht allein zur Arbeit geschaffen ist, eine unerschöpfliche Quelle reinsten
Genusses und idealer Beschäftigung verschließt.

Die Stimme ist das Instrument, das keine Ausgabe verursacht, man
braucht sich mit ihr nicht zu schleppen, man hat sie jederzeit bei sich und zu¬
gleich ist sie das edelste und vollkommenste aller Tonwerkzeuge, das sich aus
vielen Gründen vorzugsweise als Instrument für die Familie und frohe Kreise
empfiehlt. Wir haben hier keinen eigentlichen Chorgesang im Auge, dessen
Pflege den Chorvereinen obliegt; ebenso wenig reinen Sologesang, wie er in der


kommt es, daß der mehrstimmige Gesang, diese schönste Gattung der Familien¬
musik, im Allgemeinen so seltene Pflege im Hause findet? Die Natur, in Allem
so unerschöpflich und reich, läßt es an Stimmmaterial gewiß nicht fehlen.
Wie sie Blumen und Bäume zum Blühen, Saaten zur Reife bringt, wie sie
die gefiederten Sänger des Waldes mit den mannigfaltigsten Stimmen be¬
gabt und selbst jeden Vierfüßler mit besonderen Tönen bedacht hat, so hat
sie auch ihrem Lieblinge, dem Menschen ein köstliches, unschätzbares Kleinod
in die Kehle gelegt, eine rechte Gottesgabe, einen wirklichen Segen — wenn
er nur-darauf achten und dafür sich dankbar erweisen will. Aber wie
Millionen von Blüthen ungesehen verwelken, Millionen von Früchten unge¬
nützt verderben, so werden auch Millionen von Stimmen nicht gebildet, nicht
geübt, nicht gepflegt und kommen deßwegen auch nicht zur Entfaltung; sie
verwelken, verderben; diejenigen, die sie besitzen, haben weder Freude noch
Nutzen davon. Wohl spricht und schreibt man viel über den segensreichen
Einfluß, besonders der musikalischen Kunst, auf Herz, Gemüth und Geist.
Man kann uralte Autoren citiren, die sich in dieser Sache ganz im Sinne
moderner Pädagogen äußern, und zuletzt wird ja auch in unseren Tagen so
sehr viel musicirt. Aber die fast einzige Musikpraxis der Gegenwart, das
Clavierspielen, reicht nicht nur nicht hin, höheres musikalisches Interesse anzu¬
regen und ächte, solide Kunstpflege zu fördern, sie steht eher diesen Zielen
entgegen und beeinträchtigt ihre Erreichung. Das Musiciren ist nur dann
von wahrhaft belebendem Einflüsse, wenn man es mit Andern zusammen thun
kann. Aus dem Grunde muß man es so sehr beklagen, daß von Dilettanten
so selten noch Streich- und Blasinstrumente geübt werden und daß in unsern
Schulen der Gesang so nebensächlich behandelt wird. Es ist eine Versündi¬
gung an den Naturanlagen des Kindes, wenn man eine der edelsten der¬
selben, das Gesangsorgan, so ganz unbeachtet läßt, für seine Ausbildung
fast nichts thut, seine Entwicklung in keiner Weise unterstützt. In unserer
Zeit hat nur praktisches Wissen Werth, dafür geschieht in den Schulen etwas.
Was nicht unmittelbaren Nutzen für die zukünftige Existenz verspricht, —
und dazu kann man leider den Gesang nicht rechnen, — das läßt man seitab
liegen. Man übersieht aber dabei, daß man dadurch dem Menschen, der ja
doch nicht allein zur Arbeit geschaffen ist, eine unerschöpfliche Quelle reinsten
Genusses und idealer Beschäftigung verschließt.

Die Stimme ist das Instrument, das keine Ausgabe verursacht, man
braucht sich mit ihr nicht zu schleppen, man hat sie jederzeit bei sich und zu¬
gleich ist sie das edelste und vollkommenste aller Tonwerkzeuge, das sich aus
vielen Gründen vorzugsweise als Instrument für die Familie und frohe Kreise
empfiehlt. Wir haben hier keinen eigentlichen Chorgesang im Auge, dessen
Pflege den Chorvereinen obliegt; ebenso wenig reinen Sologesang, wie er in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/419>, abgerufen am 24.07.2024.