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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Nirgends hat das uralte Streben der Demokratie, jede geistige Leistung, welche
sich über das Maaß der durchschnittlichen Mittelmäßigkeit erhebt, herabzu¬
drücken und zu verkleinern, so umfassende Geltung erlangt als bei uns. Hatte
man doch seit Jahren sich bemüht, den halb gebildeten Dorfschulmeister gegen¬
über dem wissenschaftlich gebildeten Lehrer und dem Geistlichen, die Schreiber
und die andern Handlanger im Staatsdienst gegenüber den höher stehenden
Staatsbeamten, die untern Chargen im Militär gegenüber den oberen in
jeder Weise zu bevorzugen, und nun tritt das Reich mit der Anmaßung auf,
außerordentliche Leistungen außerordentlich zu belohnen und damit dem Ver¬
dienst Ziele zu setzen, welche über die Leistungsfähigkeit und das Verständniß
der Kleinstaaten weit hinausreichen! Daher ist ganz charakteristisch, daß
die demokratische Presse in Frankfurt*) und Stuttgart den Dotationen der deut¬
schen Heerführer und Staatsmänner den Ostracismus der athenischen Volks¬
versammlung als demokratische Forderung gegenüberstellt!

Uebrigens dürfte das Wiederaufleben der demokratischen Bewegung, so
sehr man vielleicht auch jetzt schon auf die Unterstützung dieser Partei im
passenden Augenblick rechnet, die Stellung des Ministeriums gegenüber dem
bevorstehenden Landtag kaum erleichtern. Zunächst werden die Minister in
ihrer Mehrheit wegen ihrer großdeutschen Antecedentien und ihres raschen
Gesinnungswechsels bei veränderter politischer Situation als Renegaten von
den Großdeutschen und Demokraten angefeindet. Aber auch bei der nationa¬
len Partei genießen dieselben im Ganzen kein großes Vertrauen, obgleich noch
in Berlin Versuche gemacht wurden, unter den nationalen Abgeordneten Pro¬
paganda für eine ministerielle Partei im Landtag zu machen. Zwar hatte das
Ministerium, um jeden Zweifel an seiner loyalen Gesinnung gegenüber dem
Reich für die Zukunft auszuschließen, seine eigene Popularität wiederholt aufs
Spiel gesetzt: so durch die Übertragung der Gesetzgebung über die Presse und
das Vereinswesen an das Reich, und durch den Antrag aus Einführung des
Tabaksmonopols: man hatte im Gegensatz zu den bayerischen Sondergelüsten
die Einverleibung von Elsaß und Lothringen durch den preußischen Staat
verlangt, man hatte endlich, als es sich um die Einführung der Gesetzgebung
des norddeutschen Bundes handelte, wiederum im Gegensatz zu der Serupu-
losität des bayerischen Ministeriums, um der einheitlichen Gesetzgebung willen
in einer Reihe wichtiger Specialfragen sich über alle Bedenken des particulä-
ren Landesinteresses unbefangen hinweggesetzt. Dennoch findet man bei der
nationalen Partei nicht die erwartete Anerkennung. Der Grund liegt nahe,
er liegt weniger in dem über Nacht eingetretenen Gesinnungswechsel -- in
weltgeschichtlichen Wendepunkten, wie der gegenwärtige, sind solche Wand¬
lungen von jeher vorgekommen und verdienen gewiß mehr Anerkennung als



D. R. 1 Und Berlin!

Nirgends hat das uralte Streben der Demokratie, jede geistige Leistung, welche
sich über das Maaß der durchschnittlichen Mittelmäßigkeit erhebt, herabzu¬
drücken und zu verkleinern, so umfassende Geltung erlangt als bei uns. Hatte
man doch seit Jahren sich bemüht, den halb gebildeten Dorfschulmeister gegen¬
über dem wissenschaftlich gebildeten Lehrer und dem Geistlichen, die Schreiber
und die andern Handlanger im Staatsdienst gegenüber den höher stehenden
Staatsbeamten, die untern Chargen im Militär gegenüber den oberen in
jeder Weise zu bevorzugen, und nun tritt das Reich mit der Anmaßung auf,
außerordentliche Leistungen außerordentlich zu belohnen und damit dem Ver¬
dienst Ziele zu setzen, welche über die Leistungsfähigkeit und das Verständniß
der Kleinstaaten weit hinausreichen! Daher ist ganz charakteristisch, daß
die demokratische Presse in Frankfurt*) und Stuttgart den Dotationen der deut¬
schen Heerführer und Staatsmänner den Ostracismus der athenischen Volks¬
versammlung als demokratische Forderung gegenüberstellt!

Uebrigens dürfte das Wiederaufleben der demokratischen Bewegung, so
sehr man vielleicht auch jetzt schon auf die Unterstützung dieser Partei im
passenden Augenblick rechnet, die Stellung des Ministeriums gegenüber dem
bevorstehenden Landtag kaum erleichtern. Zunächst werden die Minister in
ihrer Mehrheit wegen ihrer großdeutschen Antecedentien und ihres raschen
Gesinnungswechsels bei veränderter politischer Situation als Renegaten von
den Großdeutschen und Demokraten angefeindet. Aber auch bei der nationa¬
len Partei genießen dieselben im Ganzen kein großes Vertrauen, obgleich noch
in Berlin Versuche gemacht wurden, unter den nationalen Abgeordneten Pro¬
paganda für eine ministerielle Partei im Landtag zu machen. Zwar hatte das
Ministerium, um jeden Zweifel an seiner loyalen Gesinnung gegenüber dem
Reich für die Zukunft auszuschließen, seine eigene Popularität wiederholt aufs
Spiel gesetzt: so durch die Übertragung der Gesetzgebung über die Presse und
das Vereinswesen an das Reich, und durch den Antrag aus Einführung des
Tabaksmonopols: man hatte im Gegensatz zu den bayerischen Sondergelüsten
die Einverleibung von Elsaß und Lothringen durch den preußischen Staat
verlangt, man hatte endlich, als es sich um die Einführung der Gesetzgebung
des norddeutschen Bundes handelte, wiederum im Gegensatz zu der Serupu-
losität des bayerischen Ministeriums, um der einheitlichen Gesetzgebung willen
in einer Reihe wichtiger Specialfragen sich über alle Bedenken des particulä-
ren Landesinteresses unbefangen hinweggesetzt. Dennoch findet man bei der
nationalen Partei nicht die erwartete Anerkennung. Der Grund liegt nahe,
er liegt weniger in dem über Nacht eingetretenen Gesinnungswechsel — in
weltgeschichtlichen Wendepunkten, wie der gegenwärtige, sind solche Wand¬
lungen von jeher vorgekommen und verdienen gewiß mehr Anerkennung als



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/40>, abgerufen am 24.07.2024.