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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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schrieben von Geistlichen für Geistliche oder geistlich Gebildete, sondern, wenn
auch immerhin noch sehr oft von Geistlichen, doch für Jedermann aus dem
Volke, der lesen wollte, und solcher Leute gab es in Deutschland von Jahr¬
zehnt zu Jahrzehnt immer mehr. Und je mehr die frühere Allmacht der
poetischen Literatur zurücktrat, desto größer wurde das Bedürfniß nach an¬
derer Lectüre. Andachtsbücher und Geschichtsbücher nahmen darunter seit dem
14. Jahrhundert die erste Stelle ein und während die ersten doch mehr der
Frauenwelt oder besondersten Situationen des Lebens dienten, gewannen die
zweiten aus dem Kerne der deutschen Männerwelt, aus den behäbigen Bür¬
gern der großen und kleinen Städte, auch wohl aus dem niedern Adel, der
auf seiner Väter Stammschloß saß, ihr Publicum. Niemals hat die deutsche
Geschichtschreibung ein so stattliches Publicum, eine solche wahrhaft gesunde
und tüchtige Basis gehabt, denn die eigentliche Basis jeder Literatur bilden
eben doch ihre Leser und nicht das Talent oder die Tüchtigkeit ihrer Schreiber.
Erwägt man dies, so wird sich der Culturhistoriker den Denkmälern einer solchen
Literatur mit gespanntem Interesse und achtungsvoller Pietät nahen: er be¬
greift, daß ihm hier das eigentliche Wesen und Weben der Volksseele ganz
anders entgegentritt, als in den kalten und leeren Phrasen der Schriftgelehr¬
ten Mönche und Priester des früheren Mittelalters!




Z)le Befestigung großer Städte.*)

Die im Laufe dieses Jahres über die Befestigung großer Städte erschienene
Schrift, deren Verfasser der im letzten Kriege gefallene preußische Jngenieur-
Hauptmann Hertzberg ist, berührt nicht nur eine militärische Branche,
und zwar die des Befestigungswesens im Allgemeinen, sondern auch eine
Frage der Zeit, die bereits vielfach und tiefer eingehend besprochen worden ist.
Wie allenthalben bei dergleichen Erörterungen sind die Ansichten meist schroff
getheilt, wobei nicht selten das Kind mit dem Bade verschüttet wird, indem sich
mitunter Ansichten geltend machen, die entweder einer gediegenen Basis ent¬
behren, oder geradezu an das Extreme streifen. Der Verfasser des genannten
Buches dagegen, ein in seiner Stellung hochgeschätzter Fachmann, hat den



") "Betrachtungen über die Befestigung großer Städte. Ein Wort für die Stadtbefestig¬
ungen. Von Carl Adolf Hertzberg, königl. prcuß. Ingenieur-Hauptmann. Nach dem Tode des
Verfassers herausgegeben von Gustav Hertzberg, a. o. Professor der Geschichte an der Univer¬
sität Halle, Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1871.

schrieben von Geistlichen für Geistliche oder geistlich Gebildete, sondern, wenn
auch immerhin noch sehr oft von Geistlichen, doch für Jedermann aus dem
Volke, der lesen wollte, und solcher Leute gab es in Deutschland von Jahr¬
zehnt zu Jahrzehnt immer mehr. Und je mehr die frühere Allmacht der
poetischen Literatur zurücktrat, desto größer wurde das Bedürfniß nach an¬
derer Lectüre. Andachtsbücher und Geschichtsbücher nahmen darunter seit dem
14. Jahrhundert die erste Stelle ein und während die ersten doch mehr der
Frauenwelt oder besondersten Situationen des Lebens dienten, gewannen die
zweiten aus dem Kerne der deutschen Männerwelt, aus den behäbigen Bür¬
gern der großen und kleinen Städte, auch wohl aus dem niedern Adel, der
auf seiner Väter Stammschloß saß, ihr Publicum. Niemals hat die deutsche
Geschichtschreibung ein so stattliches Publicum, eine solche wahrhaft gesunde
und tüchtige Basis gehabt, denn die eigentliche Basis jeder Literatur bilden
eben doch ihre Leser und nicht das Talent oder die Tüchtigkeit ihrer Schreiber.
Erwägt man dies, so wird sich der Culturhistoriker den Denkmälern einer solchen
Literatur mit gespanntem Interesse und achtungsvoller Pietät nahen: er be¬
greift, daß ihm hier das eigentliche Wesen und Weben der Volksseele ganz
anders entgegentritt, als in den kalten und leeren Phrasen der Schriftgelehr¬
ten Mönche und Priester des früheren Mittelalters!




Z)le Befestigung großer Städte.*)

Die im Laufe dieses Jahres über die Befestigung großer Städte erschienene
Schrift, deren Verfasser der im letzten Kriege gefallene preußische Jngenieur-
Hauptmann Hertzberg ist, berührt nicht nur eine militärische Branche,
und zwar die des Befestigungswesens im Allgemeinen, sondern auch eine
Frage der Zeit, die bereits vielfach und tiefer eingehend besprochen worden ist.
Wie allenthalben bei dergleichen Erörterungen sind die Ansichten meist schroff
getheilt, wobei nicht selten das Kind mit dem Bade verschüttet wird, indem sich
mitunter Ansichten geltend machen, die entweder einer gediegenen Basis ent¬
behren, oder geradezu an das Extreme streifen. Der Verfasser des genannten
Buches dagegen, ein in seiner Stellung hochgeschätzter Fachmann, hat den



") „Betrachtungen über die Befestigung großer Städte. Ein Wort für die Stadtbefestig¬
ungen. Von Carl Adolf Hertzberg, königl. prcuß. Ingenieur-Hauptmann. Nach dem Tode des
Verfassers herausgegeben von Gustav Hertzberg, a. o. Professor der Geschichte an der Univer¬
sität Halle, Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1871.
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[0386] schrieben von Geistlichen für Geistliche oder geistlich Gebildete, sondern, wenn auch immerhin noch sehr oft von Geistlichen, doch für Jedermann aus dem Volke, der lesen wollte, und solcher Leute gab es in Deutschland von Jahr¬ zehnt zu Jahrzehnt immer mehr. Und je mehr die frühere Allmacht der poetischen Literatur zurücktrat, desto größer wurde das Bedürfniß nach an¬ derer Lectüre. Andachtsbücher und Geschichtsbücher nahmen darunter seit dem 14. Jahrhundert die erste Stelle ein und während die ersten doch mehr der Frauenwelt oder besondersten Situationen des Lebens dienten, gewannen die zweiten aus dem Kerne der deutschen Männerwelt, aus den behäbigen Bür¬ gern der großen und kleinen Städte, auch wohl aus dem niedern Adel, der auf seiner Väter Stammschloß saß, ihr Publicum. Niemals hat die deutsche Geschichtschreibung ein so stattliches Publicum, eine solche wahrhaft gesunde und tüchtige Basis gehabt, denn die eigentliche Basis jeder Literatur bilden eben doch ihre Leser und nicht das Talent oder die Tüchtigkeit ihrer Schreiber. Erwägt man dies, so wird sich der Culturhistoriker den Denkmälern einer solchen Literatur mit gespanntem Interesse und achtungsvoller Pietät nahen: er be¬ greift, daß ihm hier das eigentliche Wesen und Weben der Volksseele ganz anders entgegentritt, als in den kalten und leeren Phrasen der Schriftgelehr¬ ten Mönche und Priester des früheren Mittelalters! Z)le Befestigung großer Städte.*) Die im Laufe dieses Jahres über die Befestigung großer Städte erschienene Schrift, deren Verfasser der im letzten Kriege gefallene preußische Jngenieur- Hauptmann Hertzberg ist, berührt nicht nur eine militärische Branche, und zwar die des Befestigungswesens im Allgemeinen, sondern auch eine Frage der Zeit, die bereits vielfach und tiefer eingehend besprochen worden ist. Wie allenthalben bei dergleichen Erörterungen sind die Ansichten meist schroff getheilt, wobei nicht selten das Kind mit dem Bade verschüttet wird, indem sich mitunter Ansichten geltend machen, die entweder einer gediegenen Basis ent¬ behren, oder geradezu an das Extreme streifen. Der Verfasser des genannten Buches dagegen, ein in seiner Stellung hochgeschätzter Fachmann, hat den ") „Betrachtungen über die Befestigung großer Städte. Ein Wort für die Stadtbefestig¬ ungen. Von Carl Adolf Hertzberg, königl. prcuß. Ingenieur-Hauptmann. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben von Gustav Hertzberg, a. o. Professor der Geschichte an der Univer¬ sität Halle, Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1871.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/386>, abgerufen am 24.07.2024.