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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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denselben zu behaupten. Denn die uns so sonderbar erscheinenden Zornes¬
ergüsse gegen die Lügendichtungen, welche angeblich den Geist der Nation ver¬
gifteten, bedeuten nichts anderes, als daß die Kirche oder einige Hellsehende
in ihr zu begreifen anfingen, daß die mächtig aufstrebende Literatur in der
Volkssprache mit der Zeit die ganze Exclusivität der kirchlichen Wissenschaft
und der geistlichen Schriftstellern überwältigen und bei Seite schieben könnte.
Die Kaiserchronik hat diesem Vorgang keinen Einhalt zu thun vermocht und
die Lügenmären, gegen die sie so tapfer loszieht, sind sehr bald in der Gestalt
der Bretannischen Romane, aber auch in der des volksthümlichen Epos nach
dem Muster der Nibelungen die Beherrscher der deutschen Literatur auf lange
hinaus geworden. Denn was sie selbst uls Ersatz dafür bot, die reine ge¬
schichtliche Wahrheit, wie sie glaubte -- daß wir ganz anderer Ansicht darüber
sind, ist für die culturgeschichtliche Würdigung ihres Standpunktes gleichgül¬
tig -- konnte den Geist einer Zeit und einer Nation, die in dem lebhaftesten
idealistischen Gährungsproeeß begriffen war, nicht befriedigen. Er verlangte
ganz andere romantische oder poetische Ingredienzen für seine Speise als sie
der einseitig kirchliche Rigorismus und die exclusive geistliche Weltanschauung
ihm gewähren konnte. Für die heutige historische Kritik mag daher immer¬
hin die ganze Kaiserchronik für ein Gewebe sagenhafter Umbildung eigentlicher
Geschichte, ja zum großen Theil fast eigentlicher Sagen mit nicht mehr her¬
ausschälbarem geschichtlichem Kerne gelten, der Zeit war sie wirkliche Ge¬
schichte und weil sie dieß zu stark und exclusiv war, -- eben nur so weit die
Licenz der Kirche für die Geschichte ging und gehen durfte -- konnte sie ihr
jene Lügenmären, d. h. die eigentliche Poesie nicht ersetzen. Daß sie es sollte,
dafür zeugt nicht bloß die ausdrückliche Erklärung ihres Verfassers, sondern
auch die Form selbst. Hätte es sich nur um eine Darstellung der Geschichte
gehandelt, so würde sich .von selbst die Prosa dafür geboten haben. Aber
wenn der weltlichen Poesie damit ein Paroli gebogen werden sollte, mußte
auch Vers und Reim dem Inhalt dieselbe Anziehungskraft geben, wie sie
jene eben dadurch besaß.

So wenig nun die Kaiserchronik ihren eigentlichen Zweck erfüllen konnte,
so folgenreich ist doch der von ihr gegebene Anstoß geworden. Zunächst in
so fern, als in ihr das zu einem ungezählten Heer anschwellende Geschlecht
der Reimchroniken 'in deutscher Sprache ihre letzte Stammmutter anzuerkennen
hat. Die Sprache und die Kunstgesetze des Versbaues mochten sich noch so
sehr verändern, wie es eben der Fortschritt der gesammten deutschen Literatur
mit sich brachte und dadurch die alterthümliche Form der Kaiserchronik bald
als völlig veraltet erscheinen lassen, ihre Anlage aber im Großen, selbst ihre
Behandlungsweise im Einzelnen wurde das von einer Generation auf die
andere fortgepflanzte Modell aller, natürlich auch solcher, die von der Exi-


denselben zu behaupten. Denn die uns so sonderbar erscheinenden Zornes¬
ergüsse gegen die Lügendichtungen, welche angeblich den Geist der Nation ver¬
gifteten, bedeuten nichts anderes, als daß die Kirche oder einige Hellsehende
in ihr zu begreifen anfingen, daß die mächtig aufstrebende Literatur in der
Volkssprache mit der Zeit die ganze Exclusivität der kirchlichen Wissenschaft
und der geistlichen Schriftstellern überwältigen und bei Seite schieben könnte.
Die Kaiserchronik hat diesem Vorgang keinen Einhalt zu thun vermocht und
die Lügenmären, gegen die sie so tapfer loszieht, sind sehr bald in der Gestalt
der Bretannischen Romane, aber auch in der des volksthümlichen Epos nach
dem Muster der Nibelungen die Beherrscher der deutschen Literatur auf lange
hinaus geworden. Denn was sie selbst uls Ersatz dafür bot, die reine ge¬
schichtliche Wahrheit, wie sie glaubte — daß wir ganz anderer Ansicht darüber
sind, ist für die culturgeschichtliche Würdigung ihres Standpunktes gleichgül¬
tig — konnte den Geist einer Zeit und einer Nation, die in dem lebhaftesten
idealistischen Gährungsproeeß begriffen war, nicht befriedigen. Er verlangte
ganz andere romantische oder poetische Ingredienzen für seine Speise als sie
der einseitig kirchliche Rigorismus und die exclusive geistliche Weltanschauung
ihm gewähren konnte. Für die heutige historische Kritik mag daher immer¬
hin die ganze Kaiserchronik für ein Gewebe sagenhafter Umbildung eigentlicher
Geschichte, ja zum großen Theil fast eigentlicher Sagen mit nicht mehr her¬
ausschälbarem geschichtlichem Kerne gelten, der Zeit war sie wirkliche Ge¬
schichte und weil sie dieß zu stark und exclusiv war, — eben nur so weit die
Licenz der Kirche für die Geschichte ging und gehen durfte — konnte sie ihr
jene Lügenmären, d. h. die eigentliche Poesie nicht ersetzen. Daß sie es sollte,
dafür zeugt nicht bloß die ausdrückliche Erklärung ihres Verfassers, sondern
auch die Form selbst. Hätte es sich nur um eine Darstellung der Geschichte
gehandelt, so würde sich .von selbst die Prosa dafür geboten haben. Aber
wenn der weltlichen Poesie damit ein Paroli gebogen werden sollte, mußte
auch Vers und Reim dem Inhalt dieselbe Anziehungskraft geben, wie sie
jene eben dadurch besaß.

So wenig nun die Kaiserchronik ihren eigentlichen Zweck erfüllen konnte,
so folgenreich ist doch der von ihr gegebene Anstoß geworden. Zunächst in
so fern, als in ihr das zu einem ungezählten Heer anschwellende Geschlecht
der Reimchroniken 'in deutscher Sprache ihre letzte Stammmutter anzuerkennen
hat. Die Sprache und die Kunstgesetze des Versbaues mochten sich noch so
sehr verändern, wie es eben der Fortschritt der gesammten deutschen Literatur
mit sich brachte und dadurch die alterthümliche Form der Kaiserchronik bald
als völlig veraltet erscheinen lassen, ihre Anlage aber im Großen, selbst ihre
Behandlungsweise im Einzelnen wurde das von einer Generation auf die
andere fortgepflanzte Modell aller, natürlich auch solcher, die von der Exi-


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[0382] denselben zu behaupten. Denn die uns so sonderbar erscheinenden Zornes¬ ergüsse gegen die Lügendichtungen, welche angeblich den Geist der Nation ver¬ gifteten, bedeuten nichts anderes, als daß die Kirche oder einige Hellsehende in ihr zu begreifen anfingen, daß die mächtig aufstrebende Literatur in der Volkssprache mit der Zeit die ganze Exclusivität der kirchlichen Wissenschaft und der geistlichen Schriftstellern überwältigen und bei Seite schieben könnte. Die Kaiserchronik hat diesem Vorgang keinen Einhalt zu thun vermocht und die Lügenmären, gegen die sie so tapfer loszieht, sind sehr bald in der Gestalt der Bretannischen Romane, aber auch in der des volksthümlichen Epos nach dem Muster der Nibelungen die Beherrscher der deutschen Literatur auf lange hinaus geworden. Denn was sie selbst uls Ersatz dafür bot, die reine ge¬ schichtliche Wahrheit, wie sie glaubte — daß wir ganz anderer Ansicht darüber sind, ist für die culturgeschichtliche Würdigung ihres Standpunktes gleichgül¬ tig — konnte den Geist einer Zeit und einer Nation, die in dem lebhaftesten idealistischen Gährungsproeeß begriffen war, nicht befriedigen. Er verlangte ganz andere romantische oder poetische Ingredienzen für seine Speise als sie der einseitig kirchliche Rigorismus und die exclusive geistliche Weltanschauung ihm gewähren konnte. Für die heutige historische Kritik mag daher immer¬ hin die ganze Kaiserchronik für ein Gewebe sagenhafter Umbildung eigentlicher Geschichte, ja zum großen Theil fast eigentlicher Sagen mit nicht mehr her¬ ausschälbarem geschichtlichem Kerne gelten, der Zeit war sie wirkliche Ge¬ schichte und weil sie dieß zu stark und exclusiv war, — eben nur so weit die Licenz der Kirche für die Geschichte ging und gehen durfte — konnte sie ihr jene Lügenmären, d. h. die eigentliche Poesie nicht ersetzen. Daß sie es sollte, dafür zeugt nicht bloß die ausdrückliche Erklärung ihres Verfassers, sondern auch die Form selbst. Hätte es sich nur um eine Darstellung der Geschichte gehandelt, so würde sich .von selbst die Prosa dafür geboten haben. Aber wenn der weltlichen Poesie damit ein Paroli gebogen werden sollte, mußte auch Vers und Reim dem Inhalt dieselbe Anziehungskraft geben, wie sie jene eben dadurch besaß. So wenig nun die Kaiserchronik ihren eigentlichen Zweck erfüllen konnte, so folgenreich ist doch der von ihr gegebene Anstoß geworden. Zunächst in so fern, als in ihr das zu einem ungezählten Heer anschwellende Geschlecht der Reimchroniken 'in deutscher Sprache ihre letzte Stammmutter anzuerkennen hat. Die Sprache und die Kunstgesetze des Versbaues mochten sich noch so sehr verändern, wie es eben der Fortschritt der gesammten deutschen Literatur mit sich brachte und dadurch die alterthümliche Form der Kaiserchronik bald als völlig veraltet erscheinen lassen, ihre Anlage aber im Großen, selbst ihre Behandlungsweise im Einzelnen wurde das von einer Generation auf die andere fortgepflanzte Modell aller, natürlich auch solcher, die von der Exi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/382>, abgerufen am 25.07.2024.