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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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ein wirkliches Publieum zu schaffen. Die großen praktischen Gesichtspunkte
des eignen Vortheils, nur nicht gerade des unmittelbar vor Augen liegenden,
welche sie zu einer Popularisirung ihrer Wissenschaft hätten veranlassen kön¬
nen, blieben, so scheint es, ihnen gänzlich verborgen. Sie begehrten nichts
weiter als in ihrer hochmüthigen und bornirten Jsolirung zu beharren und es
begreift sich leicht, daß ein solcher Standpunkt nicht bloß eine lebendige
Wechselwirkung auf die Nation ausschloß, sondern selbst nur so lange halt¬
bar war, als diese eine solche exclusive Gelehrtenkaste als die berechtigte In¬
haberin alles Wissens und alles Könnens duldete.

Im zwölften Jahrhundert wurde diese Stellung unhaltbar. Die Kreuz¬
züge und andere größere Culturbewegungen schufen auch in Deutschland ein
selbstbewußtes geistiges Leben im Volke. Das Emporkommen der sogenannten
ritterlichen oder höfischen Poesie ist auf dem Felde der Literatur das hand¬
greiflichste Zeugniß für einen völlig veränderten Zustand der Bildung. Natür¬
lich mußte auch die Geschichtschreibung davon berührt werden, aber sie ließ
sich doch nur sehr langsam und sehr zögernd aus ihrer hergebrachten Bahn
ablenken. Sie erweiterte wohl ihren Gesichtskreis, wie ein Otto v. Leinsinger
und seine Nachfolger zeigen, indem sie eine höhere geschichtsphilosophische Auf¬
fassung ihrem empirischen Stoffe einzubilden strebte, aber den Bedürfnissen
und Ansprüchen der Nation kam sie damit nicht näher. Denn diese Geschichts¬
philosophie war ja selbst ein specifisches Product der exclusiver Bildung oder
der Wissenschaft im Dienste und in den Händen der Kirche, zu dem gebilde¬
ten Laien; dem Ritter des 12. Jahrhunderts stand sie wo möglich noch fremd¬
artiger als die Phrasen aus Livius und Sueton, mit denen man früher für
den Schmuck der historischen Diction alles gethan zu haben glaubte. Nach
wie vor versuchte ohnehin die Masse der geistlichen Geschichtschreiber es noch
in alter gedankenloser Weise fortzutreiben, und die Mehrzahl der Chroniken
und Annalen bis in's 13. Jahrhundert hinein verräth in Plan, Auffassung
und Darstellung nur einem sehr scharfen Auge, daß der Boden der geistigen
Suprematie der Kirche auch auf diesem Gebiete in's Wanken gerathen ist.

Besonders denkwürdig sind die Vermittelungsversuche, zu denen man sich
gelegentlich bequemte. Das nachweislich älteste und folgenreichste von allen
ist die sogenannte Kaiserchronik. Unsere heutigen Begriffe von Geschichte und
Geschichtschreibung wollen uns kaum verstatten, dieses Werk der Historiogra¬
phie zuzurechnen, und doch galt es seiner Zeit dafür und sollte nichts weiter
sein. Es sollte, wie es ausdrücklich und in Worten sagt, die keiner Doppel¬
deutung fähig sind, den Laien, die so eigensinnig oder so stupid waren, bloß
ihre Muttersprache zu verstehen, die Geschichte in deutscher Sprache vortragen.
Es ist immerhin eine starke Concession an den Zeitgeist, aber zugleich ist
auch die entschiedene Absicht nicht zu verkennen, damit die Herrschaft über


ein wirkliches Publieum zu schaffen. Die großen praktischen Gesichtspunkte
des eignen Vortheils, nur nicht gerade des unmittelbar vor Augen liegenden,
welche sie zu einer Popularisirung ihrer Wissenschaft hätten veranlassen kön¬
nen, blieben, so scheint es, ihnen gänzlich verborgen. Sie begehrten nichts
weiter als in ihrer hochmüthigen und bornirten Jsolirung zu beharren und es
begreift sich leicht, daß ein solcher Standpunkt nicht bloß eine lebendige
Wechselwirkung auf die Nation ausschloß, sondern selbst nur so lange halt¬
bar war, als diese eine solche exclusive Gelehrtenkaste als die berechtigte In¬
haberin alles Wissens und alles Könnens duldete.

Im zwölften Jahrhundert wurde diese Stellung unhaltbar. Die Kreuz¬
züge und andere größere Culturbewegungen schufen auch in Deutschland ein
selbstbewußtes geistiges Leben im Volke. Das Emporkommen der sogenannten
ritterlichen oder höfischen Poesie ist auf dem Felde der Literatur das hand¬
greiflichste Zeugniß für einen völlig veränderten Zustand der Bildung. Natür¬
lich mußte auch die Geschichtschreibung davon berührt werden, aber sie ließ
sich doch nur sehr langsam und sehr zögernd aus ihrer hergebrachten Bahn
ablenken. Sie erweiterte wohl ihren Gesichtskreis, wie ein Otto v. Leinsinger
und seine Nachfolger zeigen, indem sie eine höhere geschichtsphilosophische Auf¬
fassung ihrem empirischen Stoffe einzubilden strebte, aber den Bedürfnissen
und Ansprüchen der Nation kam sie damit nicht näher. Denn diese Geschichts¬
philosophie war ja selbst ein specifisches Product der exclusiver Bildung oder
der Wissenschaft im Dienste und in den Händen der Kirche, zu dem gebilde¬
ten Laien; dem Ritter des 12. Jahrhunderts stand sie wo möglich noch fremd¬
artiger als die Phrasen aus Livius und Sueton, mit denen man früher für
den Schmuck der historischen Diction alles gethan zu haben glaubte. Nach
wie vor versuchte ohnehin die Masse der geistlichen Geschichtschreiber es noch
in alter gedankenloser Weise fortzutreiben, und die Mehrzahl der Chroniken
und Annalen bis in's 13. Jahrhundert hinein verräth in Plan, Auffassung
und Darstellung nur einem sehr scharfen Auge, daß der Boden der geistigen
Suprematie der Kirche auch auf diesem Gebiete in's Wanken gerathen ist.

Besonders denkwürdig sind die Vermittelungsversuche, zu denen man sich
gelegentlich bequemte. Das nachweislich älteste und folgenreichste von allen
ist die sogenannte Kaiserchronik. Unsere heutigen Begriffe von Geschichte und
Geschichtschreibung wollen uns kaum verstatten, dieses Werk der Historiogra¬
phie zuzurechnen, und doch galt es seiner Zeit dafür und sollte nichts weiter
sein. Es sollte, wie es ausdrücklich und in Worten sagt, die keiner Doppel¬
deutung fähig sind, den Laien, die so eigensinnig oder so stupid waren, bloß
ihre Muttersprache zu verstehen, die Geschichte in deutscher Sprache vortragen.
Es ist immerhin eine starke Concession an den Zeitgeist, aber zugleich ist
auch die entschiedene Absicht nicht zu verkennen, damit die Herrschaft über


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[0381] ein wirkliches Publieum zu schaffen. Die großen praktischen Gesichtspunkte des eignen Vortheils, nur nicht gerade des unmittelbar vor Augen liegenden, welche sie zu einer Popularisirung ihrer Wissenschaft hätten veranlassen kön¬ nen, blieben, so scheint es, ihnen gänzlich verborgen. Sie begehrten nichts weiter als in ihrer hochmüthigen und bornirten Jsolirung zu beharren und es begreift sich leicht, daß ein solcher Standpunkt nicht bloß eine lebendige Wechselwirkung auf die Nation ausschloß, sondern selbst nur so lange halt¬ bar war, als diese eine solche exclusive Gelehrtenkaste als die berechtigte In¬ haberin alles Wissens und alles Könnens duldete. Im zwölften Jahrhundert wurde diese Stellung unhaltbar. Die Kreuz¬ züge und andere größere Culturbewegungen schufen auch in Deutschland ein selbstbewußtes geistiges Leben im Volke. Das Emporkommen der sogenannten ritterlichen oder höfischen Poesie ist auf dem Felde der Literatur das hand¬ greiflichste Zeugniß für einen völlig veränderten Zustand der Bildung. Natür¬ lich mußte auch die Geschichtschreibung davon berührt werden, aber sie ließ sich doch nur sehr langsam und sehr zögernd aus ihrer hergebrachten Bahn ablenken. Sie erweiterte wohl ihren Gesichtskreis, wie ein Otto v. Leinsinger und seine Nachfolger zeigen, indem sie eine höhere geschichtsphilosophische Auf¬ fassung ihrem empirischen Stoffe einzubilden strebte, aber den Bedürfnissen und Ansprüchen der Nation kam sie damit nicht näher. Denn diese Geschichts¬ philosophie war ja selbst ein specifisches Product der exclusiver Bildung oder der Wissenschaft im Dienste und in den Händen der Kirche, zu dem gebilde¬ ten Laien; dem Ritter des 12. Jahrhunderts stand sie wo möglich noch fremd¬ artiger als die Phrasen aus Livius und Sueton, mit denen man früher für den Schmuck der historischen Diction alles gethan zu haben glaubte. Nach wie vor versuchte ohnehin die Masse der geistlichen Geschichtschreiber es noch in alter gedankenloser Weise fortzutreiben, und die Mehrzahl der Chroniken und Annalen bis in's 13. Jahrhundert hinein verräth in Plan, Auffassung und Darstellung nur einem sehr scharfen Auge, daß der Boden der geistigen Suprematie der Kirche auch auf diesem Gebiete in's Wanken gerathen ist. Besonders denkwürdig sind die Vermittelungsversuche, zu denen man sich gelegentlich bequemte. Das nachweislich älteste und folgenreichste von allen ist die sogenannte Kaiserchronik. Unsere heutigen Begriffe von Geschichte und Geschichtschreibung wollen uns kaum verstatten, dieses Werk der Historiogra¬ phie zuzurechnen, und doch galt es seiner Zeit dafür und sollte nichts weiter sein. Es sollte, wie es ausdrücklich und in Worten sagt, die keiner Doppel¬ deutung fähig sind, den Laien, die so eigensinnig oder so stupid waren, bloß ihre Muttersprache zu verstehen, die Geschichte in deutscher Sprache vortragen. Es ist immerhin eine starke Concession an den Zeitgeist, aber zugleich ist auch die entschiedene Absicht nicht zu verkennen, damit die Herrschaft über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/381>, abgerufen am 25.07.2024.