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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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selbstverständlich für die Thaten des Volkes oder Einzelner aus dem Volke
auch sofort eine Geschichtschreibung in der heimischen Sprache. Wir haben
der großen Sachsenchronik Englands aus dem 9., 10. und 11. Jahrhundert
nichts Aehnliches an die Seite zu setzen, noch weniger den Denkmälern der
isländischen und vielleicht auch norwegischen Geschichtsliteratur, die man mit
dem allgemeinen Namen der Saga's bezeichnet. Hier ist das wirkliche Volks¬
leben in seiner vollen Unmittelbarkeit schon durch die Sprache selbst gewähr¬
leistet, hier ist alles, Inhalt und Form, Tendenz und Conception aus einem
und demselben Guß und Schriftsteller und Publicum fließen, wie es bei jeder
natürlich gesunden Literatur sein muß, in unmerklichen Uebergängen zusam¬
men. Jeder aus dem Volke, wenn er sich der Kunst die Feder zu führen
bemächtigte oder wenn er die noch bessere und damals nicht schwere verstand,
nach dem allgemein zugänglichen Modell der überall bekannten Muster etwas
Interessantes auf eine interessante Weise zu erzählen, trat in die Reihe der
nationalen Geschichtschreiber. Sein eigener Name verschwand in den meisten
Fällen vor der Gemeinsamkeit des großen Ganzen, das so wie ein gesunder
Baum fortwährend neue Sprossen und Blätter an der Stelle derer trieb,
welche im vorigen Jahre Blätter und Früchte gebracht hatten. Bauern,
Geistliche, Könige, Krieger in bunter Reihe haben hier Geschichte geschrieben
und jedem von ihnen war selbstverständlich, daß das, was er schrieb,
auch von allen Leuten seiner Nation gelesen werden sollte.

In Deutschland dagegen blieb damals die Feder des Geschichtschreibers
nicht bloß in der Hand einer festgeschlossenen, exclusiver Corporation, der
geistlichen Leute, ohne daß irgend ein Mann weltlichen Standes je daran
gedacht hätte, sich ihnen zuzugefellen, sondern diese Zunftgelehrten arbeiteten
mit vollem Bewußtsein nur für ihre Zunft oder für die wenigen Dutzend
gebildeter Laien in den höchsten Spitzen der Nation, denen eben durch diese
ihre höhere Bildung, d. h. durch ihre Hingabe an die feststehende Schablone
der kirchlichen Zunftgelehrsamkeit jede Fühlung mit dem nationalen Geist ab¬
handen gekommen war. Ein Widukind v. Corvey, ein Roswitha v. Ganders-
heim fühlten sich, wie man weiß, gründlich geschmeichelt durch die Aussicht,
daß ihre wohlgedrechselten Tiraden auch vor den Ohren der Fürsten und Für¬
stinnen des sächsischen Kaiserhauses und ihres Hofstaates Gnade finden dürf¬
ten. Was waren aber diese Kenner und Freunde der damaligen deutschen
Geschichtschreibung? Der corrupte Idealismus eines Otto III. gibt die welt¬
historische Antwort auf diese Frage. Die deutsche Nation als solche war von
dem Genuß solcher exotischen Früchte selbstverständlich ausgeschlossen und so
wenig sie selbst darnach verlangte oder auch eine Ahnung von ihrem Ge¬
schmack, ja auch nur von ihrer Existenz besaß, ebenso wenig war es den
Bewahrern und Hütern dieser seltsamen Kunstproducte darum zu thun, sich


selbstverständlich für die Thaten des Volkes oder Einzelner aus dem Volke
auch sofort eine Geschichtschreibung in der heimischen Sprache. Wir haben
der großen Sachsenchronik Englands aus dem 9., 10. und 11. Jahrhundert
nichts Aehnliches an die Seite zu setzen, noch weniger den Denkmälern der
isländischen und vielleicht auch norwegischen Geschichtsliteratur, die man mit
dem allgemeinen Namen der Saga's bezeichnet. Hier ist das wirkliche Volks¬
leben in seiner vollen Unmittelbarkeit schon durch die Sprache selbst gewähr¬
leistet, hier ist alles, Inhalt und Form, Tendenz und Conception aus einem
und demselben Guß und Schriftsteller und Publicum fließen, wie es bei jeder
natürlich gesunden Literatur sein muß, in unmerklichen Uebergängen zusam¬
men. Jeder aus dem Volke, wenn er sich der Kunst die Feder zu führen
bemächtigte oder wenn er die noch bessere und damals nicht schwere verstand,
nach dem allgemein zugänglichen Modell der überall bekannten Muster etwas
Interessantes auf eine interessante Weise zu erzählen, trat in die Reihe der
nationalen Geschichtschreiber. Sein eigener Name verschwand in den meisten
Fällen vor der Gemeinsamkeit des großen Ganzen, das so wie ein gesunder
Baum fortwährend neue Sprossen und Blätter an der Stelle derer trieb,
welche im vorigen Jahre Blätter und Früchte gebracht hatten. Bauern,
Geistliche, Könige, Krieger in bunter Reihe haben hier Geschichte geschrieben
und jedem von ihnen war selbstverständlich, daß das, was er schrieb,
auch von allen Leuten seiner Nation gelesen werden sollte.

In Deutschland dagegen blieb damals die Feder des Geschichtschreibers
nicht bloß in der Hand einer festgeschlossenen, exclusiver Corporation, der
geistlichen Leute, ohne daß irgend ein Mann weltlichen Standes je daran
gedacht hätte, sich ihnen zuzugefellen, sondern diese Zunftgelehrten arbeiteten
mit vollem Bewußtsein nur für ihre Zunft oder für die wenigen Dutzend
gebildeter Laien in den höchsten Spitzen der Nation, denen eben durch diese
ihre höhere Bildung, d. h. durch ihre Hingabe an die feststehende Schablone
der kirchlichen Zunftgelehrsamkeit jede Fühlung mit dem nationalen Geist ab¬
handen gekommen war. Ein Widukind v. Corvey, ein Roswitha v. Ganders-
heim fühlten sich, wie man weiß, gründlich geschmeichelt durch die Aussicht,
daß ihre wohlgedrechselten Tiraden auch vor den Ohren der Fürsten und Für¬
stinnen des sächsischen Kaiserhauses und ihres Hofstaates Gnade finden dürf¬
ten. Was waren aber diese Kenner und Freunde der damaligen deutschen
Geschichtschreibung? Der corrupte Idealismus eines Otto III. gibt die welt¬
historische Antwort auf diese Frage. Die deutsche Nation als solche war von
dem Genuß solcher exotischen Früchte selbstverständlich ausgeschlossen und so
wenig sie selbst darnach verlangte oder auch eine Ahnung von ihrem Ge¬
schmack, ja auch nur von ihrer Existenz besaß, ebenso wenig war es den
Bewahrern und Hütern dieser seltsamen Kunstproducte darum zu thun, sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/380>, abgerufen am 25.07.2024.