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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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von Tugenden und Vorzügen für sich beanspruchen, aber zur Nationallitera-
tur gehören sie nicht. Denn wohl mag aus dem verschnörkelten Klosterlatein
eines Widukind überall noch der Rhythmus der deutschen Verse seiner sächsi¬
schen Volksdichter für ein kundiges Ohr heraustönen, die er auf sein Pro¬
krustesbett der klassischen Diction zu spannen sich innerlich genöthigt sah,
gerade so wie aus dem holprigen pseudovirgilischen Hexameter des Ekkehard
aus Se. Gallen überall die alte germanische Langzeile durchscheint: aber deut¬
sches Fleisch und Blut, den Vollklang des deutschen Wortes, zu dessen Ver¬
ständniß es keiner subtilen Spürkraft bedarf, darf man hier nicht suchen.
Wie sich Ekkehard's Waltharius zu den Nibelungen, oder um ganz nahe zu
bleiben, zu den deutschen Trümmern des Walther-Liedes verhält, gerade so
und nicht anders ist es mit der Geschichtschreibung deutscher Angelegenheiten
und deutscher Menschen. Die lateinische Hülle mag das kundige Auge des
eigentlichen Forschers nur wenig stören, um zu dem eigentlichen Kern der That¬
sachen vorzudringen, etwas verhüllendes behält sie aber doch. Der beste Be¬
weis dafür läßt sich aus einem gelehrten Versuche der Gegenwart beibringen,
aus den deutschen UeberseHungen einer Anzahl lateinischer Geschichtschreiber
unserer Vorzeit im Anschluß an die große Ausgabe des lateinischen Originals
in den Monumenten. Die Uebersetzungen sind so gut gemacht, als es die
Hülfsmittel der Gegenwart ermöglichen, so gut im Durchschnitt, um es mit
einem Worte zu sagen, wie es die deutsche Sprache der Gegenwart nur irgend
übersetzen kann. Aber wie kalt und fremdartig, wie steif, blut- und saftlos
muthen uns diese unsere Landsleute an, gerade wenn und weil sie deutsch
sind! Die lateinische Sprache der Originale verhüllt mit ihrem bauschigen
Faltenwurf und ihren barocken Verbrämungen den Grundmängel freilich ganz
anders, und man ist im Allgemeinen geneigt zu glauben, daß hinter dieser
Verkleidung doch noch ein lebensfrischer Kern stecken möge. Aber die Zurück-
führung auf das Deutsche der Gegenwart bietet eine unwillkürliche und un¬
widerstehliche Controle für das wahrhaft Lebendige.

Nun haben wohl auch später noch viele deutsche Federn, welche sich an
die Erzählung des ihnen und der Nachwelt Merkwürdigen machten, sich der
lateinischen Sprache bedient und auch für sie gilt wenigstens bedingungsweise
das, was alle ihre Vorgänger charakterisirt. Aber es ist denn doch ein großer
Unterschied zwischen dem Küchenlatein eines Johann v. Winterthur und der
geleckten Pseudoclasficität eines Lambert v. Hersfeld. Jenes stümperhafte La¬
tein ist wirklich nur eine Maske, aus der ein deutsches Auge hervorblickt.
Es ist auch nicht schwer, die Züge der Physiognomie dahinter zu vermuthen,
obgleich mit der exacten Strenge der wissenschaftlichen Kritik nicht ganz zu
vereinbaren, wenn man behauptet, man könne jeden einzelnen Zug deutlich
erkennen. Innere Wärme und Beseelung sind aber doch zwei sehr schätzbare


von Tugenden und Vorzügen für sich beanspruchen, aber zur Nationallitera-
tur gehören sie nicht. Denn wohl mag aus dem verschnörkelten Klosterlatein
eines Widukind überall noch der Rhythmus der deutschen Verse seiner sächsi¬
schen Volksdichter für ein kundiges Ohr heraustönen, die er auf sein Pro¬
krustesbett der klassischen Diction zu spannen sich innerlich genöthigt sah,
gerade so wie aus dem holprigen pseudovirgilischen Hexameter des Ekkehard
aus Se. Gallen überall die alte germanische Langzeile durchscheint: aber deut¬
sches Fleisch und Blut, den Vollklang des deutschen Wortes, zu dessen Ver¬
ständniß es keiner subtilen Spürkraft bedarf, darf man hier nicht suchen.
Wie sich Ekkehard's Waltharius zu den Nibelungen, oder um ganz nahe zu
bleiben, zu den deutschen Trümmern des Walther-Liedes verhält, gerade so
und nicht anders ist es mit der Geschichtschreibung deutscher Angelegenheiten
und deutscher Menschen. Die lateinische Hülle mag das kundige Auge des
eigentlichen Forschers nur wenig stören, um zu dem eigentlichen Kern der That¬
sachen vorzudringen, etwas verhüllendes behält sie aber doch. Der beste Be¬
weis dafür läßt sich aus einem gelehrten Versuche der Gegenwart beibringen,
aus den deutschen UeberseHungen einer Anzahl lateinischer Geschichtschreiber
unserer Vorzeit im Anschluß an die große Ausgabe des lateinischen Originals
in den Monumenten. Die Uebersetzungen sind so gut gemacht, als es die
Hülfsmittel der Gegenwart ermöglichen, so gut im Durchschnitt, um es mit
einem Worte zu sagen, wie es die deutsche Sprache der Gegenwart nur irgend
übersetzen kann. Aber wie kalt und fremdartig, wie steif, blut- und saftlos
muthen uns diese unsere Landsleute an, gerade wenn und weil sie deutsch
sind! Die lateinische Sprache der Originale verhüllt mit ihrem bauschigen
Faltenwurf und ihren barocken Verbrämungen den Grundmängel freilich ganz
anders, und man ist im Allgemeinen geneigt zu glauben, daß hinter dieser
Verkleidung doch noch ein lebensfrischer Kern stecken möge. Aber die Zurück-
führung auf das Deutsche der Gegenwart bietet eine unwillkürliche und un¬
widerstehliche Controle für das wahrhaft Lebendige.

Nun haben wohl auch später noch viele deutsche Federn, welche sich an
die Erzählung des ihnen und der Nachwelt Merkwürdigen machten, sich der
lateinischen Sprache bedient und auch für sie gilt wenigstens bedingungsweise
das, was alle ihre Vorgänger charakterisirt. Aber es ist denn doch ein großer
Unterschied zwischen dem Küchenlatein eines Johann v. Winterthur und der
geleckten Pseudoclasficität eines Lambert v. Hersfeld. Jenes stümperhafte La¬
tein ist wirklich nur eine Maske, aus der ein deutsches Auge hervorblickt.
Es ist auch nicht schwer, die Züge der Physiognomie dahinter zu vermuthen,
obgleich mit der exacten Strenge der wissenschaftlichen Kritik nicht ganz zu
vereinbaren, wenn man behauptet, man könne jeden einzelnen Zug deutlich
erkennen. Innere Wärme und Beseelung sind aber doch zwei sehr schätzbare


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[0378] von Tugenden und Vorzügen für sich beanspruchen, aber zur Nationallitera- tur gehören sie nicht. Denn wohl mag aus dem verschnörkelten Klosterlatein eines Widukind überall noch der Rhythmus der deutschen Verse seiner sächsi¬ schen Volksdichter für ein kundiges Ohr heraustönen, die er auf sein Pro¬ krustesbett der klassischen Diction zu spannen sich innerlich genöthigt sah, gerade so wie aus dem holprigen pseudovirgilischen Hexameter des Ekkehard aus Se. Gallen überall die alte germanische Langzeile durchscheint: aber deut¬ sches Fleisch und Blut, den Vollklang des deutschen Wortes, zu dessen Ver¬ ständniß es keiner subtilen Spürkraft bedarf, darf man hier nicht suchen. Wie sich Ekkehard's Waltharius zu den Nibelungen, oder um ganz nahe zu bleiben, zu den deutschen Trümmern des Walther-Liedes verhält, gerade so und nicht anders ist es mit der Geschichtschreibung deutscher Angelegenheiten und deutscher Menschen. Die lateinische Hülle mag das kundige Auge des eigentlichen Forschers nur wenig stören, um zu dem eigentlichen Kern der That¬ sachen vorzudringen, etwas verhüllendes behält sie aber doch. Der beste Be¬ weis dafür läßt sich aus einem gelehrten Versuche der Gegenwart beibringen, aus den deutschen UeberseHungen einer Anzahl lateinischer Geschichtschreiber unserer Vorzeit im Anschluß an die große Ausgabe des lateinischen Originals in den Monumenten. Die Uebersetzungen sind so gut gemacht, als es die Hülfsmittel der Gegenwart ermöglichen, so gut im Durchschnitt, um es mit einem Worte zu sagen, wie es die deutsche Sprache der Gegenwart nur irgend übersetzen kann. Aber wie kalt und fremdartig, wie steif, blut- und saftlos muthen uns diese unsere Landsleute an, gerade wenn und weil sie deutsch sind! Die lateinische Sprache der Originale verhüllt mit ihrem bauschigen Faltenwurf und ihren barocken Verbrämungen den Grundmängel freilich ganz anders, und man ist im Allgemeinen geneigt zu glauben, daß hinter dieser Verkleidung doch noch ein lebensfrischer Kern stecken möge. Aber die Zurück- führung auf das Deutsche der Gegenwart bietet eine unwillkürliche und un¬ widerstehliche Controle für das wahrhaft Lebendige. Nun haben wohl auch später noch viele deutsche Federn, welche sich an die Erzählung des ihnen und der Nachwelt Merkwürdigen machten, sich der lateinischen Sprache bedient und auch für sie gilt wenigstens bedingungsweise das, was alle ihre Vorgänger charakterisirt. Aber es ist denn doch ein großer Unterschied zwischen dem Küchenlatein eines Johann v. Winterthur und der geleckten Pseudoclasficität eines Lambert v. Hersfeld. Jenes stümperhafte La¬ tein ist wirklich nur eine Maske, aus der ein deutsches Auge hervorblickt. Es ist auch nicht schwer, die Züge der Physiognomie dahinter zu vermuthen, obgleich mit der exacten Strenge der wissenschaftlichen Kritik nicht ganz zu vereinbaren, wenn man behauptet, man könne jeden einzelnen Zug deutlich erkennen. Innere Wärme und Beseelung sind aber doch zwei sehr schätzbare

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/378>, abgerufen am 25.07.2024.