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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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nicht blos selbst von der allerverschiedensten Bedeutsamkeit, nach unserer Auf¬
fassung ohne irgend ein Urtheil über geschichtlichen Werth und Unwerth zu¬
sammengerafft, wie es gerade der Zufall bot, so daß das Wichtigste, was
wenn auch nicht vor den leiblichen Augen doch innerhalb des Gesichtskreises
des Schreibers geschah, häufig gar nicht oder nur mit ein paar Worten
erwähnt wird, während die allerunbedeutendsten Dinge so oft in unendlicher
Breite sich ausspinnen, sondern es fehlt auch überall da, wo man durch andere
Zeugnisse im Stande ist genauere Controle zu üben, so völlig an den ersten
Elementen dessen, was man Genauigkeit, Zuverlässigkeit nennt, daß die Fülle
nur erdrückt und verwirrt, aber nicht belehrt. Aber was solchen Werken als
Quellen mangelt, das gerade ist ihr Vorzug als culturgeschichtliche, oder wie
wir es oben bezeichneten, als literarische Denkmäler. Als solche sind sie ihren
Vorgängern weit überlegen, obgleich damit nicht gesagt sein soll, daß man
nicht auch aus einem Thietmar von Merseburg, Eckehart von Gure, Otto von
Freising sehr viel für diejenigen Zweige des geschichtlichen Wissens, die man
gewöhnlich Culturgeschichte nennt, entnehmen könnte.

Es ist wohl der Mühe werth, diesen Satz, weil er einstweilen nur eine
Behauptung ist, etwas fester zu begründen, zumal da sich damit zugleich der
natürlichste Weg öffnet, auf dem wir zu einer wenn auch nur skizzirenden
Zeichnung der Hauptcharakterzüge der gesammten mittelalterlichen Historio¬
graphie in Deutschland, insbesondere der spätmittelalterlichen zu gelangen ver¬
mögen.

Fassen wir zuerst das literarische Moment im eigentlichen Wortsinn ins
Auge. Nichts kann verschiedener sein, als die Physiognomie der deutschen
Geschichtschreibung vor und nach dem großen Interregnum. Die Sprache
allein bekundet den vollsten Gegensatz: vorher herrscht das Lateinische so aus¬
schließlich, daß die zwei, drei Ausnahmefälle, wo es durch das Deutsche ver¬
drängt wird, noch mehr wie sonst den trivialen Satz erhärten: die Ausnahmen
bestätigen erst recht die Regel. Nachher ist das Lateinische zwar nicht ver¬
drängt, aber das Deutsche wuchert immer üppiger daneben, bis die fremde
Sprache zwar nicht nach dem Umfang der von ihr noch beherrschten Geschichts¬
werke, aber nach ihrer verhältnißmäßigen Zahl und Größe gegenüber den
deutschgeschriebenen ungefähr die Stellung einnimmt, welche dem Deutschen
vor jenem großen Wendepunkte zukam.

Wir enthalten uns noch aller weiteren Folgerungen aus dieser einen
großen Thatsache. Nur darauf sei schon hier hingewiesen, daß unsere deut¬
schen Geschichtschreiber seit dem 13. Jahrhundert für die Geschichte unserer
Sprache eine Bedeutung haben, die sie mit in die erste Reihe aller Literatur¬
erzeugnisse der Zeit stellt. Diejenigen, welche deutsche Geschichte in lateinischer
Sprache darzustellen allein für möglich halten, mögen außerdem alle Arten


Greuzbotc" ^. 1871, 47

nicht blos selbst von der allerverschiedensten Bedeutsamkeit, nach unserer Auf¬
fassung ohne irgend ein Urtheil über geschichtlichen Werth und Unwerth zu¬
sammengerafft, wie es gerade der Zufall bot, so daß das Wichtigste, was
wenn auch nicht vor den leiblichen Augen doch innerhalb des Gesichtskreises
des Schreibers geschah, häufig gar nicht oder nur mit ein paar Worten
erwähnt wird, während die allerunbedeutendsten Dinge so oft in unendlicher
Breite sich ausspinnen, sondern es fehlt auch überall da, wo man durch andere
Zeugnisse im Stande ist genauere Controle zu üben, so völlig an den ersten
Elementen dessen, was man Genauigkeit, Zuverlässigkeit nennt, daß die Fülle
nur erdrückt und verwirrt, aber nicht belehrt. Aber was solchen Werken als
Quellen mangelt, das gerade ist ihr Vorzug als culturgeschichtliche, oder wie
wir es oben bezeichneten, als literarische Denkmäler. Als solche sind sie ihren
Vorgängern weit überlegen, obgleich damit nicht gesagt sein soll, daß man
nicht auch aus einem Thietmar von Merseburg, Eckehart von Gure, Otto von
Freising sehr viel für diejenigen Zweige des geschichtlichen Wissens, die man
gewöhnlich Culturgeschichte nennt, entnehmen könnte.

Es ist wohl der Mühe werth, diesen Satz, weil er einstweilen nur eine
Behauptung ist, etwas fester zu begründen, zumal da sich damit zugleich der
natürlichste Weg öffnet, auf dem wir zu einer wenn auch nur skizzirenden
Zeichnung der Hauptcharakterzüge der gesammten mittelalterlichen Historio¬
graphie in Deutschland, insbesondere der spätmittelalterlichen zu gelangen ver¬
mögen.

Fassen wir zuerst das literarische Moment im eigentlichen Wortsinn ins
Auge. Nichts kann verschiedener sein, als die Physiognomie der deutschen
Geschichtschreibung vor und nach dem großen Interregnum. Die Sprache
allein bekundet den vollsten Gegensatz: vorher herrscht das Lateinische so aus¬
schließlich, daß die zwei, drei Ausnahmefälle, wo es durch das Deutsche ver¬
drängt wird, noch mehr wie sonst den trivialen Satz erhärten: die Ausnahmen
bestätigen erst recht die Regel. Nachher ist das Lateinische zwar nicht ver¬
drängt, aber das Deutsche wuchert immer üppiger daneben, bis die fremde
Sprache zwar nicht nach dem Umfang der von ihr noch beherrschten Geschichts¬
werke, aber nach ihrer verhältnißmäßigen Zahl und Größe gegenüber den
deutschgeschriebenen ungefähr die Stellung einnimmt, welche dem Deutschen
vor jenem großen Wendepunkte zukam.

Wir enthalten uns noch aller weiteren Folgerungen aus dieser einen
großen Thatsache. Nur darauf sei schon hier hingewiesen, daß unsere deut¬
schen Geschichtschreiber seit dem 13. Jahrhundert für die Geschichte unserer
Sprache eine Bedeutung haben, die sie mit in die erste Reihe aller Literatur¬
erzeugnisse der Zeit stellt. Diejenigen, welche deutsche Geschichte in lateinischer
Sprache darzustellen allein für möglich halten, mögen außerdem alle Arten


Greuzbotc" ^. 1871, 47
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[0377] nicht blos selbst von der allerverschiedensten Bedeutsamkeit, nach unserer Auf¬ fassung ohne irgend ein Urtheil über geschichtlichen Werth und Unwerth zu¬ sammengerafft, wie es gerade der Zufall bot, so daß das Wichtigste, was wenn auch nicht vor den leiblichen Augen doch innerhalb des Gesichtskreises des Schreibers geschah, häufig gar nicht oder nur mit ein paar Worten erwähnt wird, während die allerunbedeutendsten Dinge so oft in unendlicher Breite sich ausspinnen, sondern es fehlt auch überall da, wo man durch andere Zeugnisse im Stande ist genauere Controle zu üben, so völlig an den ersten Elementen dessen, was man Genauigkeit, Zuverlässigkeit nennt, daß die Fülle nur erdrückt und verwirrt, aber nicht belehrt. Aber was solchen Werken als Quellen mangelt, das gerade ist ihr Vorzug als culturgeschichtliche, oder wie wir es oben bezeichneten, als literarische Denkmäler. Als solche sind sie ihren Vorgängern weit überlegen, obgleich damit nicht gesagt sein soll, daß man nicht auch aus einem Thietmar von Merseburg, Eckehart von Gure, Otto von Freising sehr viel für diejenigen Zweige des geschichtlichen Wissens, die man gewöhnlich Culturgeschichte nennt, entnehmen könnte. Es ist wohl der Mühe werth, diesen Satz, weil er einstweilen nur eine Behauptung ist, etwas fester zu begründen, zumal da sich damit zugleich der natürlichste Weg öffnet, auf dem wir zu einer wenn auch nur skizzirenden Zeichnung der Hauptcharakterzüge der gesammten mittelalterlichen Historio¬ graphie in Deutschland, insbesondere der spätmittelalterlichen zu gelangen ver¬ mögen. Fassen wir zuerst das literarische Moment im eigentlichen Wortsinn ins Auge. Nichts kann verschiedener sein, als die Physiognomie der deutschen Geschichtschreibung vor und nach dem großen Interregnum. Die Sprache allein bekundet den vollsten Gegensatz: vorher herrscht das Lateinische so aus¬ schließlich, daß die zwei, drei Ausnahmefälle, wo es durch das Deutsche ver¬ drängt wird, noch mehr wie sonst den trivialen Satz erhärten: die Ausnahmen bestätigen erst recht die Regel. Nachher ist das Lateinische zwar nicht ver¬ drängt, aber das Deutsche wuchert immer üppiger daneben, bis die fremde Sprache zwar nicht nach dem Umfang der von ihr noch beherrschten Geschichts¬ werke, aber nach ihrer verhältnißmäßigen Zahl und Größe gegenüber den deutschgeschriebenen ungefähr die Stellung einnimmt, welche dem Deutschen vor jenem großen Wendepunkte zukam. Wir enthalten uns noch aller weiteren Folgerungen aus dieser einen großen Thatsache. Nur darauf sei schon hier hingewiesen, daß unsere deut¬ schen Geschichtschreiber seit dem 13. Jahrhundert für die Geschichte unserer Sprache eine Bedeutung haben, die sie mit in die erste Reihe aller Literatur¬ erzeugnisse der Zeit stellt. Diejenigen, welche deutsche Geschichte in lateinischer Sprache darzustellen allein für möglich halten, mögen außerdem alle Arten Greuzbotc" ^. 1871, 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/377>, abgerufen am 25.07.2024.