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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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entfaltete Kunst der Darstellung geprüft, wenn gleich beide letztere Gesichts¬
punkte mit einer gewissen bescheidenen Reserve hinter den ersten als eigentlich
leitenden zurücktraten. Auch seinem Fortsetzer ist es, wie schon erwähnt, zu¬
erst und zumeist um die Prüfung seiner Quellen als solcher zu thun, bei ihm
aber gewinnen jene andern Gesichtspunkte doch eine größere Ausdehnung als
bei seinem Vorgänger. Mit einem Worte, der literarische Werth der mittel¬
alterlichen Historiographie, der zwar oft mit ihrem quellenmäßigen thatsäch¬
lich zusammenfallen kann, aber begreiflich sehr wohl davon unterschieden wer¬
den muß, drängt sich bei ihm nicht in den Vordergrund, das wäre zu viel
gesagt, aber er behauptet eine gewisse Selbständigkeit neben dem bloß auf
das Material als solches gerichteten Interesse.

Wenn wir den Ausdruck "literarischer Werth" brauchten, so meinen wir
damit keineswegs die stilistische Kunst, die sprachlichen Mittel der Darstellung,
das größere oder geringere Geschick der Gruppirung und Aneinanderreihung
der Begebenheiten. Wir geben ihm eine weitere Bedeutung, -wo man ebensogut
culturgeschichtlich dafür setzen könnte, wenn diese Bezeichnung nicht gar zu
weitschichtig wäre. Wir fassen aber darunter auch alle jene Momente, die
ein literarisches Denkmal der Vergangenheit zum Gegenstand der Forschung
und zu einer Quelle der Erkenntniß machen. Und so angesehen wird sich die
Werthmessung des einzelnen Erzeugnisses dieser historiographischen Literatur
sehr häufig ganz anders gestalten, als wenn man aus ihnen blos den nackten
Kern der thatsächlichen Wirklichkeit, die zeitliche und örtliche Feststellung irgend
eines Ereignisses oder einer Persönlichkeit herausschälen will. Denn nun
kommt es weniger darauf an, was sie überliefern, als wie sie es überliefern.
Als Spiegel ihrer Zeit, als Zeugniß für die Auffassung, das Denken und
Empfinden ihrer Umgebung mögen dieselben Schriftsteller oft die reichste Be¬
lehrung gewähren, denen wir als historische Quellen im strengsten Wortsinn
alle und jede Bedeutung und Brauchbarkeit abzusprechen genöthigt sind. Ja,
es ist nicht paradox zu behaupten, daß die Bedeutung des einen Momentes im
Durchschnitt in dem Verhältniß größer sein wird als die des anderen zurücktritt.

Was sür den einzelnen Fall gilt, gilt auch für das Ganze. Kein
Zweifel, als Quellen können sich diese Geschichtschreiber des 14. und 13.
Jahrh, nicht entfernt mit ihren Vorgängern messen. Wo fände sich einer, der
an die exacte Treue eines Hermann v. Reichenau, an die unerschöpfliche Fülle
des wichtigsten Details in einem Adam v. Bremen oder Lambert v. Hersfeld
reichte? Selbst die besten unter den spätern, ein Mathies v. Neuburg, ein
Johan v. Weitring, ein Peter von Zittau sind im Vergleich damit unzuver¬
lässig, dürstig oder ungenau unterrichtet. Ja, wenn es blos auf die Masse
ankäme, dann würde man wohl einem Ottokar von Steier den Preis vor
allen andern im ganzen Mittelalter zugestehen müssen. Aber diese Masse ist


entfaltete Kunst der Darstellung geprüft, wenn gleich beide letztere Gesichts¬
punkte mit einer gewissen bescheidenen Reserve hinter den ersten als eigentlich
leitenden zurücktraten. Auch seinem Fortsetzer ist es, wie schon erwähnt, zu¬
erst und zumeist um die Prüfung seiner Quellen als solcher zu thun, bei ihm
aber gewinnen jene andern Gesichtspunkte doch eine größere Ausdehnung als
bei seinem Vorgänger. Mit einem Worte, der literarische Werth der mittel¬
alterlichen Historiographie, der zwar oft mit ihrem quellenmäßigen thatsäch¬
lich zusammenfallen kann, aber begreiflich sehr wohl davon unterschieden wer¬
den muß, drängt sich bei ihm nicht in den Vordergrund, das wäre zu viel
gesagt, aber er behauptet eine gewisse Selbständigkeit neben dem bloß auf
das Material als solches gerichteten Interesse.

Wenn wir den Ausdruck „literarischer Werth" brauchten, so meinen wir
damit keineswegs die stilistische Kunst, die sprachlichen Mittel der Darstellung,
das größere oder geringere Geschick der Gruppirung und Aneinanderreihung
der Begebenheiten. Wir geben ihm eine weitere Bedeutung, -wo man ebensogut
culturgeschichtlich dafür setzen könnte, wenn diese Bezeichnung nicht gar zu
weitschichtig wäre. Wir fassen aber darunter auch alle jene Momente, die
ein literarisches Denkmal der Vergangenheit zum Gegenstand der Forschung
und zu einer Quelle der Erkenntniß machen. Und so angesehen wird sich die
Werthmessung des einzelnen Erzeugnisses dieser historiographischen Literatur
sehr häufig ganz anders gestalten, als wenn man aus ihnen blos den nackten
Kern der thatsächlichen Wirklichkeit, die zeitliche und örtliche Feststellung irgend
eines Ereignisses oder einer Persönlichkeit herausschälen will. Denn nun
kommt es weniger darauf an, was sie überliefern, als wie sie es überliefern.
Als Spiegel ihrer Zeit, als Zeugniß für die Auffassung, das Denken und
Empfinden ihrer Umgebung mögen dieselben Schriftsteller oft die reichste Be¬
lehrung gewähren, denen wir als historische Quellen im strengsten Wortsinn
alle und jede Bedeutung und Brauchbarkeit abzusprechen genöthigt sind. Ja,
es ist nicht paradox zu behaupten, daß die Bedeutung des einen Momentes im
Durchschnitt in dem Verhältniß größer sein wird als die des anderen zurücktritt.

Was sür den einzelnen Fall gilt, gilt auch für das Ganze. Kein
Zweifel, als Quellen können sich diese Geschichtschreiber des 14. und 13.
Jahrh, nicht entfernt mit ihren Vorgängern messen. Wo fände sich einer, der
an die exacte Treue eines Hermann v. Reichenau, an die unerschöpfliche Fülle
des wichtigsten Details in einem Adam v. Bremen oder Lambert v. Hersfeld
reichte? Selbst die besten unter den spätern, ein Mathies v. Neuburg, ein
Johan v. Weitring, ein Peter von Zittau sind im Vergleich damit unzuver¬
lässig, dürstig oder ungenau unterrichtet. Ja, wenn es blos auf die Masse
ankäme, dann würde man wohl einem Ottokar von Steier den Preis vor
allen andern im ganzen Mittelalter zugestehen müssen. Aber diese Masse ist


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[0376] entfaltete Kunst der Darstellung geprüft, wenn gleich beide letztere Gesichts¬ punkte mit einer gewissen bescheidenen Reserve hinter den ersten als eigentlich leitenden zurücktraten. Auch seinem Fortsetzer ist es, wie schon erwähnt, zu¬ erst und zumeist um die Prüfung seiner Quellen als solcher zu thun, bei ihm aber gewinnen jene andern Gesichtspunkte doch eine größere Ausdehnung als bei seinem Vorgänger. Mit einem Worte, der literarische Werth der mittel¬ alterlichen Historiographie, der zwar oft mit ihrem quellenmäßigen thatsäch¬ lich zusammenfallen kann, aber begreiflich sehr wohl davon unterschieden wer¬ den muß, drängt sich bei ihm nicht in den Vordergrund, das wäre zu viel gesagt, aber er behauptet eine gewisse Selbständigkeit neben dem bloß auf das Material als solches gerichteten Interesse. Wenn wir den Ausdruck „literarischer Werth" brauchten, so meinen wir damit keineswegs die stilistische Kunst, die sprachlichen Mittel der Darstellung, das größere oder geringere Geschick der Gruppirung und Aneinanderreihung der Begebenheiten. Wir geben ihm eine weitere Bedeutung, -wo man ebensogut culturgeschichtlich dafür setzen könnte, wenn diese Bezeichnung nicht gar zu weitschichtig wäre. Wir fassen aber darunter auch alle jene Momente, die ein literarisches Denkmal der Vergangenheit zum Gegenstand der Forschung und zu einer Quelle der Erkenntniß machen. Und so angesehen wird sich die Werthmessung des einzelnen Erzeugnisses dieser historiographischen Literatur sehr häufig ganz anders gestalten, als wenn man aus ihnen blos den nackten Kern der thatsächlichen Wirklichkeit, die zeitliche und örtliche Feststellung irgend eines Ereignisses oder einer Persönlichkeit herausschälen will. Denn nun kommt es weniger darauf an, was sie überliefern, als wie sie es überliefern. Als Spiegel ihrer Zeit, als Zeugniß für die Auffassung, das Denken und Empfinden ihrer Umgebung mögen dieselben Schriftsteller oft die reichste Be¬ lehrung gewähren, denen wir als historische Quellen im strengsten Wortsinn alle und jede Bedeutung und Brauchbarkeit abzusprechen genöthigt sind. Ja, es ist nicht paradox zu behaupten, daß die Bedeutung des einen Momentes im Durchschnitt in dem Verhältniß größer sein wird als die des anderen zurücktritt. Was sür den einzelnen Fall gilt, gilt auch für das Ganze. Kein Zweifel, als Quellen können sich diese Geschichtschreiber des 14. und 13. Jahrh, nicht entfernt mit ihren Vorgängern messen. Wo fände sich einer, der an die exacte Treue eines Hermann v. Reichenau, an die unerschöpfliche Fülle des wichtigsten Details in einem Adam v. Bremen oder Lambert v. Hersfeld reichte? Selbst die besten unter den spätern, ein Mathies v. Neuburg, ein Johan v. Weitring, ein Peter von Zittau sind im Vergleich damit unzuver¬ lässig, dürstig oder ungenau unterrichtet. Ja, wenn es blos auf die Masse ankäme, dann würde man wohl einem Ottokar von Steier den Preis vor allen andern im ganzen Mittelalter zugestehen müssen. Aber diese Masse ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/376>, abgerufen am 25.07.2024.